Tuesday, March 15, 2022

„Wir wissen immer noch nicht, wo Marina ist“

Die Journalistin Marina Ovsyannikova hält ein Schild mit der Aufschrift „Nie wieder Krieg“ in die Kamera WELT „Wir wissen immer noch nicht, wo Marina ist“ Stefanie Bolzen - Vor 29 Min. Weil sie in einer Live-Sendung ein Schild mit „Stopp den Krieg“ in die Kamera hielt, drohen der Journalistin Marina Owsjannikowa bis zu 15 Jahren Haft. Ihre Einsicht kommt spät, zuvor hatte sie jahrelang Putins Lügen verbreitet. Ihr Mut hat auch persönliche Gründe. Über das Schicksal der russischen TV-Journalistin Marina Owsjannikowa, die am Montagabend die Hauptnachrichtensendung mit einem Anti-Kriegs-Protest unterbrach, herrschte am Dienstag Unklarheit. „Wir wissen immer noch nicht, wo Marina ist. Sie wird bereits seit mehr als zwölf Stunden festgehalten“, schreibt der russische Menschenrechtler und Anwalt Pavel Chikow am Dienstagmorgen auf seinem Twitter-Account. Die hochrangige Redakteurin des Senders „Perwy Kanal“ (Erster Kanal) war am Vorabend für einige Sekunden in der Hauptnachrichtensendung des russischen Staatsfernsehens zu sehen. Owsjannikowa hatte sich plötzlich hinter die Sprecherin gestellt, mit einem Plakat in der Hand, auf dem in handschriftlichen Sätzen stand: „Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen“. Es gelang ihr auch, einige Mal „Stoppt den Krieg“ zu rufen. Die Live-Übertragung wurde unterbrochen, eine Reportage aus einem Krankenhaus eingespielt. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Tass wurde Owsjannikowa festgenommen und „in eine Polizeistation des Innenministeriums im Bezirk Ostankino“ im Norden Moskaus gebracht, in der Nähe des staatlichen Fernsehzentrums. Anwalt Chikow warf den Behörden vor, dass eine „Ermittlungsvorprüfung keine Haft- und Freiheitsstrafe begründet“. Menschenrechtsaktivisten fürchten um das Wohlergehen der 43-Jährigen, die laut „Times“ Mutter von zwei Kindern ist. Auf Grundlage des erst Anfang März erlassenen neuen Mediengesetzes könnte Owsjannikowa wegen der „öffentlichen Verbreitung von Falschinformationen über das russische Militär“ angeklagt werden. Ihr drohen bis zu 15 Jahre Haft. Überall in Russland protestieren Bürger und Aktivisten gegen Putins Krieg. Die Organisation OVD-Info, die sich in Russland gegen politische Verfolgung einsetzt, dokumentierte auf ihrer Website und in sozialen Medien nicht nur Owsjannikowas Auftritt am Montagabend. Die Gruppe postet auch Chroniken der Proteste im Land gegen den Ukraine-Krieg – und welche Repression den Demonstranten droht. Tausende sind in Gefängnissen, Polizisten verwüsten die Wohnungen von Aktivisten, rohe Gewalt gegen friedliche Demonstranten ist Alltag. Wie im Fall der Bürgerin Anastasia Kotlyar, die OVD zufolge am Sonntag in Wladiwostok an einem Protest teilnahm und in einem Polizeibus von einem Beamten beschimpft, geschlagen und sogar gewürgt wurde. Sie kam mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Wenige Stunden nach dem Plakat-Auftritt der Journalistin Owsjannikowa in den Abendnachrichten der Sendung „Wremja“ (deutsch: „Zeit“), Russlands um 21 Uhr ausgestrahltes staatliches Pendant zur „Tagesschau“, bedankte sich der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyj in einem Video. Er sei allen Russen „dankbar“, die weiter die Wahrheit sagten und gegen Falschinformation kämpften, „so wie die Dame, die in ein TV-Studio des Ersten Kanals gegangen ist mit einem Poster gegen den Krieg“. Vor ihrer Aktion im eigenen Sender hatte Marina Owsjannikowa ein Video von sich selbst aufgezeichnet. Ihr Vater sei Ukrainer, ihre Mutter Russin. Sie ertrage es nicht, die beiden Länder verfeindet zu sehen. „Leider habe ich in den vergangenen Jahren für Perwy Kanal gearbeitet und Propaganda für den Kreml gemacht. Dafür schäme ich mich heute sehr“, sagte sie. „Wir haben 2014 geschwiegen, als das alles erst begann“, sagte sie mit Bezug auf die Annexion der Krim und den Krieg in der Ost-Ukraine „Wir sind nicht zu Protesten gegangen, als der Kreml Nawalny vergiftete. Wir haben dieses menschenfeindliche Regime einfach schweigend beobachtet. Und jetzt hat sich die ganze Welt von uns abgewendet.“