Tuesday, March 1, 2022
Ukrainekrieg: Der Großangriff auf Kiew steht bevor
Handelsblatt
Ukrainekrieg: Der Großangriff auf Kiew steht bevor
Brüggmann, Mathias Holtermann, Felix Wermke, Christian - Gestern um 23:00
Russland kündigt gezielte Angriffe auf den ukrainischen Geheimdienst an. Ein gewaltiger Militärkonvoi rollt auf Kiew zu und die Menschen flüchten aus dem Land.
Die Ukraine steht vor einer Tragödie, vor einem Blutvergießen. Russland verschiebt immer mehr Truppen in die Ukraine. Satellitenbilder eines US-Unternehmens zeigen, dass seit der Nacht zum Dienstag eine 64 Kilometer lange Kolonne aus gepanzerten Fahrzeugen, Raketenwerfern und Mannschaftstransportern auf Kiew zurollt. Militärstrategen erwarten, dass die ukrainische Hauptstadt eingekesselt wird.
Russlands Kriegserfahrungen in Syrien könnten das Vorbild sein: Dort wurden Großstädte wie Aleppo und Idlib umzingelt und sturmreif gebombt. Bereits jetzt wird die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw massiv mit Artillerie angegriffen.
Nach Ermittlungen der angesehenen Rechercheure der Organisation Bellingcat kommen bei Bombardements in Charkiw auch international geächtete Streubomben zum Einsatz. So werden mehr Zivilisten getroffen. Bellingcat hat in der Vergangenheit exakt russische Kriegsverbrechen wie den Abschuss der Zivilmaschine MH 17 der Malaysia Airlines über dem Donbass durch eine russische Boden-Luft-Rakete des Typs Buk nachgewiesen.
Ein brutaleres Vorgehen Russlands sei bereits am Dienstagmorgen zu sehen gewesen, als Artilleriefeuer auf die Innenstadt gerichtet worden sei, sagte Mölling. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Karim A. A. Khan, erklärte am Dienstag, er habe Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen aufgenommen.
Auch bei den wochenlangen russischen Luftangriffen auf syrische Städte war die geächtete Streumunition eingesetzt worden. Dabei wurden zivile Gebäude massiv beschädigt, Aleppo sah am Ende aus wie Stalingrad im Zweiten Weltkrieg. Nach tagelangem Beschuss wurden der Bevölkerung wenige Stunden Zeit gegeben, über einen sogenannten „humanitären Korridor“ zu fliehen, um danach die Stadt mitsamt den Verbliebenen in Schutt und Asche zu legen.
Ukraine bittet China um Vermittlung
Auch im Fall des erwarteten Kessels von Kiew rechnen russische Beobachter damit, dass Putin vor Beginn massiver Luftschläge einen humanitären Korridor anbietet. Er lasse jetzt so martialisch aufmarschieren, damit viele Ukrainer stark verunsichert werden und fliehen.
So könne man die Verbliebenen zu Kämpfern erklären und ihnen die Schuld für hohe Verluste zuweisen. Um möglichst viele Menschen zur Flucht zu bewegen, greift die russische Armee auch verstärkt Kraftwerke, Wasseraufbereitungsanlagen und Fernsehtürme an.
Eine Abzugschance für Zivilisten vor massiven Bombardements dürfte Moskau geben, weil ein Krieg in Kiew mit vielen Toten in Russland extrem unpopulär ist. Täglich gehen Menschen in Russland auf die Straße, um gegen den Krieg in der Ukraine zu demonstrieren, wissend, dass sie dafür festgenommen werden können.
Tausende Russen haben Anti-Kriegs-Aufrufe unterschrieben trotz des realen Risikos, dass sie ihre Jobs verlieren oder Zusatzrenten gestrichen werden. Den russischen Überfall auf die Ukraine als „Krieg“ zu bezeichnen ist in Russland verboten.
Der Krieg könnte noch tödlicher werden
Das aktuelle Einmarschszenario bedeutet laut dem Militärexperten Franz-Stefan Gady, „dass wir in eine viel tödlichere Phase des Konflikts eintreten“. Die bisherigen russischen Verluste von mehreren Tausend Soldaten seien „noch nicht so hoch, dass sie für die russischen Streitkräfte untragbar wären“. Allerdings sei auch auf der ukrainischen Seite die Kampfmoral „hoch, und es gibt keine Anzeichen für einen bevorstehenden Zusammenbruch“, schrieb Gady auf Twitter.
Russland hat bei seinem Krieg bisher vor allem junge, unerfahrene Rekruten aus weit entlegenen Teilen Russlands eingesetzt – aus Gebieten im Kaukasus am Baikalsee, die keine tägliche Erfahrung mit dort lebenden ukrainischstämmigen Menschen haben, wie etwa in Städten im Westen Russlands. Das deutet darauf hin, dass Spezialeinheiten zurückgehalten werden für den Fall, dass der russische Vormarsch ins Stocken gerät; oder auf mögliche militärische Operationen an bisher nicht attackierten Orten, wie der Grenze zu Polen und Litauen.
Die Führung in Kiew versucht, den Krieg über ein Einbinden Pekings zu stoppen: Der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba habe in einem Telefonat mit seinem chinesischen Amtskollegen Wang Yi um Vermittlung durch Peking gebeten, teilte das ukrainische Außenministerium mit. Kuleba habe Wang gebeten, dass China seine Beziehungen zu Russland nutze, um die Regierung in Moskau zu einem Stopp der Invasion zu bewegen.
Wang habe seine Bereitschaft erklärt, sich dafür einzusetzen, den Krieg auf diplomatischem Weg zu beenden. China ruft Staatsmedien zufolge Russland und die Ukraine auf, eine Lösung des Konflikts durch Verhandlungen zu erreichen.
China hatte sich bei einer Abstimmung im Weltsicherheitsrat, in dem ein Ende des Kriegs gefordert und Russlands Aggression verurteilt werden sollte, enthalten. Moskau hatte die Resolution durch sein Veto verhindert. Absolute Priorität sei nun zu verhindern, dass die Lage eskaliere oder sogar außer Kontrolle gerate, zitieren die Medien Chinas Chefdiplomaten Wang nach einem Telefonat mit Kuleba.
Putin stößt auf Widerstand
Sicherheitsexpertin Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) betont, Putin seien „alle Mittel recht, um seine Ziele zu erreichen“. Er wolle, anders als zuvor, keine neutrale Ukraine mehr – sondern „eine Entmilitarisierung und damit de facto einen Vasallenstaat“.
Schaue man auf die Truppenbewegungen, ziele Putin nicht auf großen Raumgewinn, sondern darauf, Kiew einzunehmen. Die zweite Angriffswelle scheine deutlich größer, brutaler und kräftiger zu werden.
„Die Frage ist, wie lange die Ukraine dem widerstehen kann – trotz neuer Waffen, trotz enormer Unterstützung der Bevölkerung.“ Wenn der Vormarsch nicht so schnell vorankomme, drohten Szenarien, dass sich beide Seiten dauerhaft verhakeln, wie „damals in Syrien oder in Grosny im Tschetschenienkrieg“.
Bisher laufe die russische Operation nicht gut, stellt DGAP-Experte Mölling fest. Moskau habe Probleme mit der Logistik, der Widerstand der Ukrainer sei groß. Stiegen die Verluste auf russischer Seite oder gehe die Offensive nicht voran, setze dies Putin weiter unter Druck. „Zeit und Kosten sind zwei wichtige Faktoren“, sagt Mölling.
Derweil mehren sich Berichte und Satellitenbilder, denen zufolge auch belarussische Truppen in die Ukraine einfallen. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko bestreitet das. Ziel dürfte sein, die ukrainische Westgrenze abzuriegeln – um westlichen Waffennachschub für Kiew zu unterbinden.
Ukraine hat keinen Zugang mehr zu Häfen am Asowschen Meer
Mitentscheidend für den weiteren Verlauf im Ukrainekrieg seien nun die Waffenlieferungen, sagt Mölling. „Wenn die Ukraine jetzt nicht massive Hilfe aus dem Westen bekommt, um das Blatt noch zu drehen, wird das wahrscheinlichste Szenario sein, dass die gesamte Ukraine eingenommen wird.“
Vor allem im nordöstlichen, nur wenige Kilometer von Russland entfernten Charkiw und in Mariupol am Asowschen Meer haben sich die Kämpfe weiter verschärft. Mariupol, wichtig wegen seiner Montanindustrie und seines Hafens für die Exporte von ukrainischen Produkten wie Weizen und Stahl sowie wegen des Landzugangs von Russland zur annektierten Halbinsel Krim, ist von russischen Truppen eingekesselt.
Videos zeigen verheerende Angriffe. Die Ukraine kann ihre Häfen am Asowschen Meer nicht mehr nutzen, die Hafenstadt Berdjansk ist von russischen Truppen besetzt. Durch wegfallende ukrainische Weizen- und Maisexporte droht vor allem in Afrika und im Nahen Osten eine Hungersnot.
Den Vereinten Nationen zufolge haben inzwischen mehr als 660.000 Menschen Zuflucht in Nachbarländern der Ukraine gesucht. In der EU wird inzwischen mit mindestens fünf Millionen ukrainischen Flüchtlingen gerechnet.
Selenski sagte in einer im Europaparlament übertragenen Rede, seine Landsleute kämpften um ihre Freiheit und um ihr Leben: „Das ist der höchste Preis, den wir zahlen müssen, und die höchste Motivation.“ Er bat um Aufnahme der Ukraine in die EU, da die Menschen gleichberechtigte Mitglieder in Europa sein wollten.
„Wir wollen unsere Kinder leben sehen. Beweisen Sie, dass Sie bei uns sind. (...) Beweisen Sie, dass Sie tatsächlich Europäer sind.“ Dann werde Leben gegen den Krieg gewinnen.
Ruf nach härteren Sanktionen wird lauter
Unterdessen gerät die russische Wirtschaft durch die westlichen Sanktionen immer stärker unter Druck. Es sei aber „nicht garantiert, dass Sanktionen zum Erfolg führen“, sagt Michael O‘Hanlon vom Brookings Institute, einem der wichtigsten US-Thinktanks.
Er ist Co-Director des Center for Security, Strategy and Technology. „Aber sie führen dazu, dass der Aggressor unter Druck gerät.“
Nun müssten „die Sanktionen gegenüber Russland noch verschärfen werden, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass Russland die Ukraine dauerhaft besetzt, zivile Einrichtungen bombardiert oder große Teile des Landes abspaltet“. Auch im Europaparlament wurde eine Verschärfung der Sanktionen gefordert.