Thursday, March 3, 2022
Russische Perspektive: Selbst Putins Anhänger sind gegen diesen Krieg
Russland führt gegen die Ukraine einen Krieg, den viele Russinnen und Russen nicht billigen.
ZEIT ONLINE
Russische Perspektive: Selbst Putins Anhänger sind gegen diesen Krieg
Jens Siegert - Vor 4 Std.
Wer in Russland öffentlich protestiert, riskiert viel. Doch die Aktivisten sind nicht mehr allein: Kritik an der Invasion kommt auch von überraschender Seite.
Der vergangene Donnerstag, der Tag, an dem Wladimir Putin den großen Krieg gegen die Ukraine begann, hat alles verändert – auch in Russland. Diesmal bot der russische Präsident keine "höflichen grünen Männer" auf, wie sie 2014, angeblich "ohne einen Schuss" abzugeben, die Krim annektierten. Diesmal schickte er Raketen und Marschflugkörper und dann eine riesige Armee ins Nachbarland. Putin nannte die "Entmilitarisierung und Entnazifizierung" der Ukraine sein Ziel, gemeint ist aber der Sturz der ukrainischen Regierung um Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Installation einer Russland genehmen neuen Staatsführung. Am Ende seiner Begründung des Kriegs sagte Putin, er sei überzeugt, dass die Menschen in Russland seine Entscheidung unterstützten.
Ist das so? Genau das ist momentan die wichtigste Frage in Russland.
Fraglose Unterstützung für Putins Krieg gibt es bisher nur auf den vielen großen und kleinen Propagandakanälen. Hier führt die russische Armee eine angeblich siegreiche "Spezialoperation" gegen ein "Kiewer Regime" durch, beschießt ausschließlich "militärische Objekte", verschont die ukrainische Zivilbevölkerung, die ihre russischen "Befreier" zudem begeistert begrüßt, eigene Verluste gibt es kaum.
Im Übrigen aber scheint das ganze Land unter Schock zu stehen. Keine Euphorie, nirgendwo. Nur die immer wieder zu hörende, ungläubige Versicherung, man habe diesen Krieg nicht für möglich gehalten. Das Neue daran ist, dass das alle sagen: von bekannten Putin-Gegnern über Leute, denen Politik egal ist, bis hin zu Putin-Anhängern. Womöglich reicht der Unglauben bis in den Machtapparat hinein.
Der öffentliche Protest gegen den Krieg ist viel weiter gefächert als bei den bisherigen Aktionen gegen Putin. Und er scheint mit der Zeit zu wachsen. Fast jeden Tag werden neue Erklärungen gegen den Krieg veröffentlicht. Sie kommen von zivilgesellschaftlichen Aktivistinnen, von bekannten Oppositionellen und Leuten aus der Unterhaltungsbranche, die auch früher schon den Mund aufgemacht haben. Neu ist aber, dass sich nun auch führende Wirtschaftsfachleute melden, Journalistinnen mit Schwerpunkt auf internationale Beziehungen, Absolventen der Moskauer Staatlichen Hochschule für Internationale Beziehungen, der Kaderschmiede des Außenministeriums, oder auch einfach Lehrerinnen und Lehrer. Sogar drei Abgeordnete der scheinoppositionellen Kommunisten, deren Partei den Krieg offiziell unterstützt, haben sich in sozialen Medien gegen den Krieg ausgesprochen. Ebenso taten es einige der sehr reichen Unternehmer, die bisher immer treu zu Putin standen.
Niemand findet diesen Krieg gut
Das zeugt von persönlichem Mut, denn es ist gefährlich. Wer auf die Straße geht, einen Aufruf unterschreibt oder im Internet etwas gegen den Krieg postet, kann Geld- oder Haftstrafen bekommen oder entlassen werden. Doch dieser öffentliche Protest ist, gemessen an der Größe dieses riesigen Landes, immer noch marginal.
Neu ist aber, dass die alten und neuen Putin-Gegner mit ihrer Ablehnung des Kriegs nicht mehr allein sind – auch wenn sich die große Masse der Menschen und Funktionsträger bisher passiv verhält. Es scheint fast so, dass außer Putin und seiner allerengsten Umgebung niemand diesen Krieg gut findet.
Nicht einmal alle Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrates, der in den vergangenen Jahren immer mehr zu einer Überregierung geworden ist. Stattdessen gab es dort bei einer für das Fernsehen inszenierten Sitzung am Montag vergangener Woche viele bedröppelte Gesichter: Putin ließ jedes Mitglied einzeln auftreten und seine Unterstützung der Anerkennung der beiden selbst ernannten Volksrepubliken im Donbass erklären. Es wirkte wie eine unvorbereitete Schulklasse, die der strenge Lehrer einen unangekündigten Test machen ließ. Viele Mitglieder dieses Gremiums, die doch selbst zu den Mächtigen gehören, wirkten überrascht und überrumpelt. Sie waren wohl in Putins Kriegspläne nicht eingeweiht worden.
Umso weniger wussten die unteren Etagen des Staatsapparats davon. Die russische Journalistin Farida Rustamowa arbeitet für die britische BBC und gilt in Moskau als in Machtkreisen außerordentlich gut vernetzt. Sie schreibt, alle Politiker und hohen Beamten, mit denen sie seit Putins Angriffsbefehl gesprochen habe, seien nicht nur überrascht gewesen, sondern entsetzt. Alle seien ohne Ausnahme gegen den Krieg. Nicht etwa, weil sie in irgendeiner Weise prowestlich seien, sondern weil sie diesen Krieg für eine Katastrophe für ihr Land halten. Allerdings, schreibt Rustamowa, sei niemand in den Machtzirkeln fähig oder willig, Putin zu widersprechen, geschweige denn, ihn von seinem Tun abzubringen.
Das Entsetzen über diesen Krieg teilen diese Leute mit vielen Putin-Unterstützern im Land. Menschen, die Putin im Prinzip zustimmen, dass Russland vom Westen, von den USA bedroht wird, ja, sich mit dem Westen schon längst in einer Art Krieg befindet. Menschen, die Putins Behauptung glauben, die gegenwärtige ukrainische Führung sei ein antirussisches, westlich gelenktes Marionettenregime, das 2014 nach dem Maidan nur installiert worden sei, um das "Bruderland" Ukraine gegen Russland in Stellung zu bringen. Aber selbst diese Leute verstehen den Krieg nicht. Alle hatten Putins Drohkulisse lediglich für einen Schachzug gehalten, um den Westen zu Zugeständnissen zu bewegen. Das entspricht der verbreiteten Überzeugung, dass der Westen nur diese Sprache verstehe und sonst auf Russland nicht höre.
Doch selbst diese Menschen sind davon überzeugt, dass Krieg gegen die Ukraine Wahnsinn ist. Wahnsinn, weil sich Brüder und Schwestern nicht gegenseitig umbringen sollten. Wahnsinn aber auch, weil sie nicht verstehen, wie dieser Krieg russischen Interessen dienen kann. Entsprechend stehen auch diese Menschen jetzt unter Schock.
Wut oder belagerte Festung?
Dass sie deshalb nun zu Putin-Gegnerinnen werden, ist unwahrscheinlich. Noch geben sie die Schuld nicht Putin selbst, sondern suchen nach verborgenen Gründen, warum sich der Präsident zu diesem aus ihrer Sicht so falschen, ja, fatalen Schritt entschlossen hat. Sie wollen glauben, dass er etwas weiß, dass sie nicht wissen oder nicht wissen können. Weil er zum Beispiel über besondere Informationen der Geheimdienste verfügt. Aber auch, weil der Glaube an eine grundsätzlich höhere Weisheit der Staatsführung in Russland sehr lebendig ist. Auch wäre es wohl zu schrecklich für die Weltwahrnehmung vieler, wenn sich Putin jetzt einfach als Kriegsverbrecher herausstellte.
In welche Richtung sich diese Schockstarre auflösen wird, ist kaum zu sagen, zu viele Faktoren spielen eine Rolle. Wie schnell endet der Krieg? Wie endet er? Wie viele Opfer wird es unter ukrainischen Zivilisten und russischen Soldaten geben? Erfahren die Menschen in Russland überhaupt davon, wie grausam der Krieg in der Ukraine ist, welche und wie viele Tote es gibt? Oder gelingt es dem Kreml weiter, die Mehrheit der Menschen in Russland mit seiner überragenden Propagandamaschine von seiner Sicht zu überzeugen? Welche Auswirkungen werden die Sanktionen haben? Wenn die Sanktionen Russland wirklich wehtun, kann die Wirkung unterschiedlich sein: Entweder löst es Wut auf Putin aus – oder es erzeugt Solidarität mit ihm. Leider deuten die Erfahrungen der vergangenen Jahre eher auf Letzteres.