Thursday, March 17, 2022

Lage in der Ukraine: Wo der Terror regiert

ZEIT ONLINE Lage in der Ukraine: Wo der Terror regiert Simone Brunner - Vor 1 Std. In besetzten Städten in der Südukraine versucht das russische Militär, den Widerstand zu brechen. Immer wieder verschwinden Bürgermeister, Journalisten und Aktivisten. Iwan Fedorow ist wieder frei. Der 32-jährige Mann mit dem blonden Kurzhaarschnitt steht vor einer Tankstelle, irgendwo im Süden der Ukraine, als er sich auf Facebook zu Wort meldet. "Das ist meine erste Videobotschaft nach sechs Tagen Gefangenschaft", sagt er. Er dankt den Bürgern, die keine Angst haben und für die Freiheit kämpfen. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dafür, dass er ihn nicht im Stich gelassen habe. "Und ich bin überzeugt", sagt er am Ende des Videos, "dass wir bald wieder die ukrainische Fahne auf dem zentralen Platz von Melitopol hissen werden." Es ist eine ukrainische Geschichte mit Happy End in einer Zeit der ukrainischen Horrormeldungen. Vor einer Woche wurde Fedorow, der Bürgermeister der südukrainischen 150.000-Einwohner-Stadt Melitopol, von den Russen entführt. Maskierte zerrten ihn aus dem Bürgermeisteramt, später tauchte er wieder in den prorussischen Separatistengebieten in der Ostukraine auf. Gestern wurde er gegen neun russische Kriegsgefangene ausgetauscht. Ein Telefongespräch Fedorows mit Selenskyj, kurz nach der Freilassung als Video aufgezeichnet, verbreitete sich schnell auf allen sozialen Kanälen. Melitopol ist seit mehr als zwei Wochen von russischen Soldaten besetzt. Aber wie in anderen ukrainischen Städten auch tun sich die Russen trotz der militärischen Übermacht dort schwer. Lokalpolitiker wie Fedorow weigern sich, mit den russischen Besatzern zu kooperieren, die Bevölkerung stellt sich den Panzerkolonnen und Soldaten entgegen – unbewaffnet. Jeden Tag gibt es in den Städten proukrainische Demonstrationen. Die Menschen schwenken ukrainische Fahnen, singen die ukrainische Hymne und rufen den Besatzern zu: "Haut ab, nach Hause!" Die Besatzer reagieren zunehmend mit Gewalt Auf den Widerstand reagieren die Besatzer mit Entführungen, Terror und zunehmender Gewalt. Proteste, wie zuletzt in den Hafenstädten Cherson oder Skadowsk, werden mit Tränengas und Schüssen brutal aufgelöst. Und es sind nicht nur patriotische Bürgermeister, die dieser Tage verschwinden. Am Samstag, kurz vor 16 Uhr, schrieb der Lokaljournalist Oleg Baturin in einem Chat mit Kollegen, er wolle sich gleich mit einem anderen Journalisten am Busbahnhof treffen. Baturin lebt in Kachowka, am linken Ufer des zu einem Stausee aufgestauten Dnipro. In 20 Minuten sei er zurück, sagte er zu seiner Frau. Er kam nie wieder. Seither gilt Baturin als vermisst, wie auch der zweite Journalist, mit dem er sich hatte treffen wollen, Serhij Zyhipa. Baturins Angehörige fürchten um seinen Gesundheitszustand, er leidet an einer Augenkrankheit und hat vermutlich keinen Zugang zu Medikamenten. Dass sein Verschwinden mit seinen kritischen Berichten über die russische Besatzung zusammenhängt, davon ist sein Kollege Iwan Antypenko überzeugt. "Oleg hat vom ersten Tag an über die Vorgänge berichtet und die Dinge beim Namen genannt", sagt Antypenko ZEIT ONLINE. Soll heißen: Er hat die russischen Besatzer Besatzer genannt und nicht Befreier, die Verbrechen an der Zivilbevölkerung beschrieben und nicht vertuscht, die Plünderungen den russischen Soldaten zugeschrieben. Das habe ihn zur Zielscheibe für die russischen Besatzer gemacht – mit dem Nebeneffekt, auch andere Journalisten in der Region einzuschüchtern, glaubt Antypenko, der selbst inzwischen in die Westukraine geflohen ist. 100 Kilometer flussabwärts von Kachowka liegt Cherson, die Gebietshauptstadt und mit 300.000 Einwohnern die bislang größte ukrainische Stadt, die von den Russen erobert wurde. Bis zuletzt gingen die Bewohner regelmäßig mit ukrainischen Fahnen auf die Straße. Aber inzwischen regiert auch hier der Terror. 200 bis 250 Personen aus seinem Umfeld seien schon verschwunden, sagt ein lokaler Aktivist aus Cherson, der mit einer Gruppe Freiwilliger Lebensmittel an die Bevölkerung verteilt und anonym bleiben möchte (sein Name ist der Redaktion bekannt). Auch er sorgt sich um seine Sicherheit, ist inzwischen untergetaucht und schläft jeden Tag an einem anderen Ort. Einer seiner Kollegen soll von russischen Spezialkräften regelrecht bis zu seinem Hauseingang gejagt worden sein, er schrieb ihm vor seiner Entführung noch eine Nachricht (der Chatverlauf liegt ZEIT ONLINE vor). "Sie holen die Leute aus ihren Häusern raus", sagt der Aktivist. Diese Vorgänge im Süden machen auch deutlich, warum sich die Ukrainerinnen und Ukrainer im ganzen Land so vehement gegen die russischen Besetzer wehren. Wenn sich das ukrainische Militär irgendwann ergeben sollte und die Kämpfe enden, fangen der Terror, die Gewalt und der Kampf gegen die ukrainische Bevölkerung wohl erst so richtig an. Aus manchen Dörfern berichten Bewohner sogar schon von Exekutionen auf offener Straße. US-Behörden gehen davon aus, dass Moskau eine Liste mit Ukrainern zusammenstellt, "die nach der Militärbesetzung getötet oder in Lager geschickt werden sollen", berichtete kürzlich die Washington Post. Was eine großflächige russische Besatzung bedeuten könnte, hatten die Ukrainer schon seit 2014 direkt vor Augen: auf der Krim und im Donbass, wo sogenannte Separatisten die "Donezker Volksrepublik" und die "Luhansker Volksrepublik" ausriefen. Während manche Ukrainer damals noch auf höhere Pensionen oder Gehälter unter russischer Führung hofften, wurden die Gebiete zu rechtsfreien, international nicht anerkannten Räumen, verarmt und isoliert – in politischen Maßstäben von Freedom Europe so unfrei wie Tschetschenien. Von konkreten Plänen Russlands, nach dem Donbass-Drehbuch von 2014 sogenannte "Volksrepubliken" auch in der Südukraine zu gründen, warnten zuletzt Lokalpolitiker. Aber ist das wirklich realistisch? Denn anders als 2014 finden die Pläne der Russen in der Südukraine überhaupt keinen Anklang. In Melitopol lief einzig eine Stadtratsabgeordnete des prorussischen "Oppositionsblocks", Galina Daniltschenko, zu den Russen über. In einem Video forderte sie die Bewohner auf, sich auf die "neue Wirklichkeit" einzustellen und ein Komitee der Volksdeputierten zu gründen. Ihrem Aufruf ist bisher niemand gefolgt – auf den Straßen protestierten die Menschen nicht etwa für den Anschluss an Russland, sondern die Freilassung des proukrainischen Bürgermeisters Iwan Fedorow. Die Ukrainer wollen nicht aufgeben "Der Versuch, lokale Eliten durch Druck und Anreize zu kooptieren, um diese sogenannten Volksrepubliken auszurufen, sind bisher gescheitert", sagt der deutsche Ukraine-Experte Mattia Nelles. Wirklich kontrollieren ließe sich das Gebiet wohl nur mit einer brutalen Militärverwaltung. Aber dazu sind die Kräfte der russischen Armee noch zu sehr derzeit an den anderen Kriegsfronten in der Ukraine gebunden, glaubt er. Vielleicht ginge es aber ohnehin mehr darum, eine prorussische Volksrepublik nur pro forma zu gründen, um Russlands Position bei den Friedensverhandlungen mit den Ukrainern zu verbessern, glaubt etwa der Journalist Maksym Drabok, der den Süden der Ukraine zuletzt intensiv bereist hat. Eine Fake-Repubik als Faustpfand, um den Ukrainern Zugeständnisse an anderer Front abzugewinnen? So oder so – die Ukrainer wollen nicht aufgeben. Fedorow, der Bürgermeister von Melitopol, gab sich kurz nach seiner Freilassung schon wieder kämpferisch. "Gebt mir zwei Tage, um mich zu erholen, aber danach bin ich bereit, jeden Befehl auszuüben, damit wir den Tag des Sieges so schnell wie möglich feiern können", sagte er bei seinem Telefongespräch mit dem Präsidenten Selenskyj: "Damit Melitopol wieder ukrainisch wird."