Thursday, March 17, 2022

«Wenn die Ukraine verliert, wird auch Europa zerstört» – drei Schlüsselfiguren der Maidan-Proteste kämpfen für die Zukunft ihres Landes

Neue Zürcher Zeitung «Wenn die Ukraine verliert, wird auch Europa zerstört» – drei Schlüsselfiguren der Maidan-Proteste kämpfen für die Zukunft ihres Landes Ivo Mijnssen, Lwiw - Gestern um 18:00 Wegen Menschen wie Mustafa Najjem, Switlana Salischtschuk und Serhi Leschtschenko wandte sich die Ukraine vor acht Jahren dem Westen zu. Heute lehnen sich die «drei Musketiere» gegen die Moskauer Militärmaschine auf. Hätte die Revolution auf dem Maidan nicht so friedlich begonnen, so wäre es Mustafa Najjem gewesen, der den ersten Schuss abgab. Zum Katalysator der Massenproteste wurde ein Post des heute 40-Jährigen auf Facebook: «Okay, jetzt im Ernst», schrieb Najjem am 21. November 2013, «wer ist bereit, um Mitternacht auf den Maidan zu kommen?» Es kamen zunächst 2000, dann Hunderttausende, und die Geschichte der Ukraine beschleunigte sich ähnlich rasant wie gerade jetzt wieder: Bis im April 2014 war der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch geflohen, Russland hatte die Halbinsel Krim annektiert sowie den Krieg im Donbass vom Zaun gerissen. 15 000 Männer, Frauen und Kinder, Zivilisten und Soldatinnen wurden bereits vor dem jüngsten russischen Überfall in der Ukraine getötet. Seit dem 24. Februar 2022 sind Tausende hinzugekommen. «Generation Euromaidan» Najjem sitzt heute als stellvertretender Infrastrukturminister in einem Kiewer Regierungsbunker und versucht, die vielerorts durch den Krieg unterbrochenen Versorgungswege einigermassen aufrechtzuerhalten. Die «Generation Euromaidan» kämpft verzweifelt um das Überleben ihres Landes – und kann dabei auf viel politische und gesellschaftliche Solidarität zählen. «Die Beziehungen, die wir 2014 geknüpft haben, sind so prägend, dass sie für immer bleiben», beschreibt Switlana Salischtschuk das Verhältnis zu ihrem Mitstreiter Mustafa Najjem. Die Aktivistin stand damals hinter der «Euromaidan»-Facebook-Seite, die nach Najjems Post die Proteste koordinierte. Heute arbeitet Salischtschuk für den staatlichen Energiekonzern Naftohas. Die Versorgungssituation sei aufgrund des Konfliktes mit Russland prekär, erzählt sie am Telefon aus der Westukraine. «Ich versuche, dem Land von internationalen Partnern Gas für das nächste Jahr zu sichern.» Zu den zentralen Maidan-Aktivisten und zum engen Freundeskreis Najjems und Salischtschuks gehört auch Serhi Leschtschenko. Der 41-Jährige wurde in den nuller Jahren als investigativer Journalist landesweit bekannt. Heute berät er Wolodimir Selenski und bekämpft russische Fake News, die oft aus offiziellen Regierungsquellen verbreitet würden. «Die häufigste Behauptung ist, dass der Präsident geflohen sei», erzählt der Kiewer, der wie Najjem in der Hauptstadt seit über zwei Wochen mit nicht mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht durcharbeitet. Leschtschenko, Salischtschuk und Najjem sind in der Ukraine als «die drei Musketiere» bekannt. Ihre Wege waren in den letzten zwanzig Jahren stets eng miteinander verschlungen und gehen auf die erste demokratische Massenbewegung zurück, die «orange Revolution» von 2004. Alle drei arbeiteten als Journalisten und spielten in den Folgejahren wichtige Rollen in Bürgerbewegungen gegen die Zensur und für mehr Transparenz in der Politik. Weg von Russland Das Trio war damit mitverantwortlich dafür, dass sich die Ukraine aus dem russischen Orbit im postsowjetischen Raum löste und Europa zuwandte – eine Entwicklung, die Wladimir Putin nun mit brutaler Waffengewalt rückgängig machen will. Nichtstaatliche gesellschaftliche Bewegungen waren dem Kreml stets suspekt. Die Regierung in Moskau interpretierte sie bereits 2004 als vom Westen manipulierte «Polittechniken» zur Unterwanderung ihrer Einflusssphäre. Die Situation in der Ukraine war aber stets zu kompliziert, als dass sie sich von aussen hätte steuern lassen: So münzte der moskaufreundliche Politiker Wiktor Janukowitsch die Zerstrittenheit des europafreundlichen Lagers 2010 in einen Wahlsieg der damals noch starken prorussischen Bewegung um, lavierte dann aber jahrelang zwischen Brüssel und Moskau. Erst als der Präsident am 21. November 2013 auf Druck Putins das Assoziierungsabkommen mit der EU völlig überraschend begrub, begann der «Euromaidan». «Die Anfänge waren so unschuldig», sagt Salischtschuk. Man habe von Idealen geschwärmt und das Ziel verfolgt, eine moderne Ukraine zu errichten. Doch was folgte, war eine massive Repressionswelle der Sicherheitskräfte und eine Radikalisierung der Protestbewegung im Frühjahr 2014. Sie errichtete Barrikaden mit brennenden Reifen auf dem Unabhängigkeitsplatz, bald kam es zu regelmässigen Scharmützeln. Mitte Februar eskalierte die Situation, als Sicherheitskräfte über 100 Demonstranten erschossen. Das Parlament zwang den Präsidenten Wiktor Janukowitsch zum Rücktritt. Kurz darauf tauchten russische Soldaten ohne Hoheitszeichen auf der Halbinsel Krim auf, wo die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist. Sie umstellten das Parlament, das daraufhin ein irreguläres Unabhängigkeitsreferendum beschloss. Bei Zusammenstössen in Odessa wurden Dutzende von prorussischen Aktivisten getötet, und im Donbass begannen von Moskau militärisch unterstützte Separatisten im April einen Krieg, der bis heute andauert. Marsch durch die Institutionen Auch wenn die «drei Musketiere» keine objektiven Beobachter der jüngeren ukrainischen Geschichte sind, eint sie die Überzeugung, dass ihr Land sich trotz Gewalt und Krieg zum Besseren verändert habe. «Die Ukraine wurde als Nation neu geboren», sagt Mustafa Najjem. «Wir haben in den letzten acht Jahren viel getan, um EU-Beitritts-reif zu werden, und unsere Armee hat grosse Erfahrung auf dem Schlachtfeld gesammelt – leider.» Dass dieser Weg nicht nur aussen-, sondern auch innenpolitisch über riesige Hürden geführt hat, zeigt die Karriere der drei Aktivisten geradezu exemplarisch. Wie andere der «Generation Euromaidan» zogen sie in der Folge der vorgezogenen Neuwahlen im Herbst 2014 ins Parlament ein. Sie schlossen sich dabei dem Block des wenige Monate zuvor gewählten Präsidenten Petro Poroschenko an, wahrten aber gleichzeitig Distanz zum milliardenschweren Schokoladenkönig. Der Marsch durch die Institutionen wurde für die Maidan-Aktivisten zum Spagat zwischen Idealen und Realpolitik. Zu Recht verweisen sie auf Reformerfolge, etwa im Energiemarkt, beim Steuersystem und bei der Dezentralisierung. In den Kapitalen etablierten sich eine moderne Wirtschaft und ein westeuropäisches Lebensgefühl. Bei der Justiz sowie der oft politisch missbrauchten Korruptionsbekämpfung mischten sich jedoch Erfolge mit Rückschlägen. Die Macht der Oligarchen ist ungebrochen. Das Trio löste seine Allianz mit Poroschenko bald auf, um sich politisch neu zu positionieren. Seine Versuche, zusammen mit Micheil Saakaschwili eine Koalition der «Euro-Optimisten» auf die Beine zu stellen, scheiterte 2016 aber an internen Konflikten und Machtkämpfen. Bei der Parlamentswahl 2019 traten Salischtschuk und Leschtschenko als Unabhängige an und verloren gegen Kandidaten von Selenskis neuer Partei Diener des Volkes. Najjem hatte sich bereits früher zurückgezogen. Regierungsgegner bewachen am 19. Februar 2014 in Kiew, Ukraine, den Unabhängigkeitsplatz, auch bekannt als Maidan. Brendan Hoffman / Getty © Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Regierungsgegner bewachen am 19. Februar 2014 in Kiew, Ukraine, den Unabhängigkeitsplatz, auch bekannt als Maidan. Brendan Hoffman / Getty Dennoch gelang es den «drei Musketieren» seither, sich bedeutende Positionen in strategischen, staatsnahen Bereichen zu sichern. So war Mustafa Najjem vor seiner Rückkehr in die Regierung Vizedirektor des staatlichen Rüstungskonzerns Ukroboronprom, Leschtschenko beriet Selenski im Wahlkampf und sitzt im Aufsichtsrat der Eisenbahnen. Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Kampf für Europa Wer vor dem Krieg welchem Lager angehört habe, spiele heute keine Rolle mehr, erklären die drei übereinstimmend. Switlana Salischtschuk muss sogar kurz lachen, als sie an die bedeutungslos erscheinenden Kontroversen der jüngsten Vergangenheit zurückdenkt: So sei der russischsprachig aufgewachsene Selenski dafür kritisiert worden, ein traditionelles ukrainisches Bauernhemd zu tragen, das dem russischen zu ähnlich sei. «Heute zählt nicht mehr, was du trägst und wie du sprichst, sondern nur, was du damit tust», sagt sie. Najjem verweist auf den grossen Widerstand gerade im traditionell Russland nahestehenden Südosten des Landes gegen die Invasoren, um zu illustrieren, dass der 2014 noch stark spürbare Ost-West-Graben keine Rolle mehr spiele. «Putin hat die Ukraine geeint wie niemand zuvor», sagt er. Aus diesem Grund würden die Russen die Hauptstadt nicht einnehmen. Leschtschenko klingt nach einer langen Arbeitswoche um einiges erschöpfter und desillusionierter. «Die Ukraine hat die stärkste Armee Europas», sagt er. «Aber es liegen dunkle Tage vor uns, und der Westen ist dafür mitverantwortlich.» Der Politiker wirkt verbittert darüber, dass sich die Nato weigert, eine Flugverbotszone über der Ukraine durchzusetzen. Die Sorge der Allianz, dass eine solche direkte Konfrontation zwischen Ost und West den Konflikt ausser Kontrolle geraten liesse, versteht er nicht. «Acht Jahre lang hat man von uns Reformen verlangt. Wir haben sie durchgeführt, aber wir sind doch nicht Teil von Europa», klagt er. «Nun stecken wir in einem Krieg wie im Mittelalter und haben keine Sicherheitsgarantien.» Der Westen unterschätze Putin immer noch, glaubt Leschtschenko. «Wenn die Ukraine verliert, wird auch Europa zerstört.» Zugeständnisse in Verhandlungen mit Russland schliesst das Trio aus. «Wir können keinen Kompromiss eingehen, wenn uns eine Pistole an den Kopf gehalten wird», sagt Najjem. Würde die Regierung in Kiew etwa die Annexion der Krim und die Unabhängigkeit der Separatistenrepubliken im Donbass anerkennen, so Salischtschuk, käme dies einer Kapitulation gleich. «Das hiesse, dass man mitten in Europa mit Gewalt die Grenzen neu zeichnen kann und dies akzeptiert wird.» Im Schwebezustand Leschtschenko bleibt in Kiew, auch wenn er weiss, dass eine Stürmung der Stadt für ihn lebensgefährlich würde. Wie viele in der Ukraine sieht er keine Alternative zum Kämpfen. «Ich habe das Gefühl, ein Planet fällt bald auf uns, und wir haben keinen Plan B», sagt er. Auch Najjem will ausharren. Er denke dieser Tage viel an die Flucht seiner Familie aus Afghanistan beim Abzug der Sowjettruppen 1989. «Die Ukraine ist meine Heimat. Ich will nicht erneut zum Flüchtling werden.» Switlana Salischtschuk hingegen packte nach dem ersten Schock einen kleinen Koffer und floh in den Westen der Ukraine. Dort ist sie vorläufig mit ihrer Familie bei einem Freund untergekommen. Sie befinde sich in einem Schwebezustand: «Ich habe nur ein paar Jeans und einen Pullover mitgebracht, darin sitze ich nun und arbeite die ganze Zeit an meinem Computer.» Sie wisse, dass sie rausgehen und sich neue Kleider kaufen sollte. «Aber sobald ich das tue, akzeptiere ich, dass ich vielleicht für lange Zeit nicht mehr nach Hause kann. Dazu bin ich noch nicht bereit.»