Wednesday, March 16, 2022

Estlands Hochschulen wollen keine Studierenden aus Russland und Weissrussland mehr aufnehmen

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Estlands Hochschulen wollen keine Studierenden aus Russland und Weissrussland mehr aufnehmen Rudolf Hermann - Gestern um 05:30 «Die Universität kann die Zulassung von Studierenden weder überprüfen noch kontrollieren. Es gibt zwar keine verlässlichen Angaben darüber, was russische Bürger denken, aber deutliche Anzeichen, dass es in der Bevölkerung einige Unterstützung für diesen Krieg gibt. Wir können nicht sicher sein, dass russische und weissrussische Behörden nicht versuchen, Personen an estnische Universitäten zu schicken, deren Aufenthalt andere Ziele hat als freie akademische Betätigung.» Dies schrieb Aune Valk, Vizerektorin der Universität Tartu für den akademischen Bereich, vor einigen Tagen in einer Mitteilung, die vom estnischen Rundfunk verbreitet wurde. Valk begründete damit, weshalb ihre Universität beschlossen hat, für das Studienjahr 2022/23 keine neuen Studierenden aus Russland und Weissrussland in Bachelor-Studiengänge aufzunehmen. Von der Massnahme sei jedoch nicht betroffen, wer immatrikuliert sei oder bereits über eine Aufenthaltsgenehmigung verfüge. Gegenwärtig sind an der Universität Tartu, Estlands prestigeträchtigster Hochschule, 257 Studentinnen und Studenten aus Russland sowie 25 aus Weissrussland eingeschrieben. Unter normalen Umständen wären im neuen akademischen Jahr etwa 70 bis 80 weitere hinzugekommen. Weitere Hochschulen wollen nachziehen Wie aus estnischen Medienberichten hervorgeht, planen auch andere Hochschulen ähnliche Massnahmen, etwa Tal Tech, die technische Hochschule Tallinn. Mart Kalm, der Rektor der estnischen Kunstakademie und Präsident der Vereinigung der Hochschulen, schreibt in einer Stellungnahme, die internationale akademische Gemeinschaft habe eine moralische Verpflichtung, sich für Frieden sowie demokratische und akademische Rechte einzusetzen. In Russland und Weissrussland aber schwiegen Universitäten und Forschungsinstitute zum Krieg, auch wenn sich manche Akademiker in einem offenen Brief dagegen geäussert hätten. Deshalb habe man sich entschlossen, die institutionelle Zusammenarbeit vorläufig auszusetzen. Diese Argumentation klingt zwar stringent, stösst aber in estnischen akademischen Kreisen sowie der breiteren Gesellschaft auch auf heftigen Widerspruch. Das Hauptargument lautet, es gehe dabei nicht nur um Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern die Massnahme treffe auch noch die Falschen. Denn es seien im Allgemeinen ja genau die jungen Leute, die im Westen studieren wollten, die das System Putin ablehnten. Das hatte in ihrer Stellungnahme auch die Vizerektorin Aune Valk eingeräumt und ihr Bedauern darüber ausgedrückt, dass auch solche Personen von der Massnahme getroffen würden. Doch sie sei der Meinung, schreibt Valk, dass deren Zukunftsperspektiven weit mehr von Russlands Entschluss, einen Krieg anzufangen, beeinträchtigt würden als vom Entscheid einer estnischen Universität, sie vorübergehend nicht aufzunehmen. «Ein gefährlicher Präzedenzfall» Ivar Juhkam, ein Master-Student an der Uni Tartu, will dies allerdings nicht gelten lassen. Zwar sei es natürlich so, dass man sich Russlands Angriff auf die Ukraine entgegenstellen müsse, weil der Kreml damit nicht nur menschliche Werte ignoriere, sondern auch internationale Rechtsnormen verletze. Dennoch halte er den Plan, den die Universität Tartu mit dem Segen des Bildungsministeriums gefasst habe, für undurchdacht, schreibt Juhkam in einem Gastkommentar für den estnischen Rundfunk. Putin gelte es sich entgegenzustellen, nicht jungen Russinnen und Russen. Auch ein estnischer Pass sei im Übrigen keine Garantie für Patriotismus. Zu glauben, dass man Putin-Unterstützer von der Universität fernhalten könne, indem man jungen Russen den Zutritt zum Studium verweigere, sei lachhaft. In die gleiche Richtung geht ein von Studentenschaft und Alumni an die Leitung der Universität Tartu gerichteter offener Brief. Man dürfe Staatsbürgerschaft und Unterstützung für Putins Krieg in der Ukraine nicht gleichsetzen, heisst es dort. Ein Ausschluss russischer und weissrussischer Studenten könne im Gegenteil der Kreml-Propaganda in die Hände spielen. Man wisse von keiner anderen europäischen Universität, die über ähnliche Schritte nachdenke. Es handle sich um einen gefährlichen Präzedenzfall, der die akademische Freiheit und den Ruf der Universität Tartu gefährde. Auch für den estnischen Staatspräsidenten Alar Karis, der von 2007 bis 2012 Rektor der Universität Tartu gewesen war, handelt es sich beim Plan der Hochschule um ein kontroverses Vorgehen. Er gehe deshalb davon aus, dass das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen sei, sagte Karis laut dem Rundfunk.