Monday, May 20, 2024

„Die Leute wollen in Ruhe gelassen werden“

WELT „Die Leute wollen in Ruhe gelassen werden“ von Claus Christian Malzahn • 4 Std. • 6 Minuten Lesezeit Werner Henning ist Deutschlands dienstältester Landrat. Seinen Wahlergebnissen zufolge ist er offenbar auch einer der beliebtesten. Die Bürokratie habe seine Arbeit jedoch zunehmend eingeschränkt, beklagt der Christdemokrat. Nun tritt er bei den Kommunalwahlen nicht wieder an. Fullscreen button Werner Henning (CDU), Landrat des thüringischen Kreises Eichsfeld Der Eichsfelder Landrat Werner Henning, 67, residiert nach jahrelangen Renovierungsarbeiten nun wieder im „Mainzer Schloss“ im Thüringer Heilbad Heiligenstadt, einem opulenten Sandsteinbau aus dem 18. Jahrhundert. Allerdings nicht mehr lange, Ende Mai wird der Landrat und CDU-Mitglied nach mehr als drei Jahrzehnten verabschiedet. Im Interview erzählt er, worauf es ankommt in so einem kommunalpolitischen Leben. WELT: Herr Henning, Sie sind jetzt seit 34 Jahren im Amt und damit der dienstälteste Landrat in Deutschland. Nun dürfen Sie aus Altersgründen nicht noch einmal kandidieren. Würden Sie gern? Werner Henning: Genau genommen sind es schon 34,5 Jahre. Am 7. Dezember 1989 wurde ich zum Vorsitzenden des Rates des Kreises gewählt. Das ist mir wichtig. Dieser „Vorlauf“ gehört mit dazu. Es war die Zeit, in der die Deutsche Demokratische Republik in ihren letzten Monaten tatsächlich noch demokratisch wurde. WELT: Haben Sie Abschiedsschmerzen? Henning: Es war eine sehr schöne Zeit. Sie findet einen guten Abschluss. Aber ich merke natürlich, wie sehr sich alles verändert hat. Ob ich die Kraft hätte, mich auf die vollkommen anders gewordene Zeit noch einmal einstellen zu können und zu wollen, weiß ich nicht. Insofern ist mir die Altersbegrenzung in Thüringen eine Hilfe. WELT: Das Eichsfeld liegt mitten in Deutschland und ist ein ganz besonderer Flecken. Wie würden Sie ihre Heimat in ein paar Sätzen beschreiben? Henning: Das Eichsfeld ist eine Region, die sich über die Jahrhunderte als katholische Insel entwickelt hat, was aber nicht bedeutet, dass wir ein zweiter Vatikanstaat sind. Wir waren immer selbstbewusst und haben auf Selbstständigkeit großen Wert gelegt. Zu den politischen Strukturen von außen halten wir seit jeher Distanz. WELT: In Bayern sagt man: Mir san mir. Gilt das hier auch? Henning: Die Alten sprechen hier noch Platt, eine Redewendung lautet: „Luss Dich nüscht uffschwatze“! Wir haben eine Antenne dafür, wann gute Ratschläge von außen zu unerwünschter Einmischung werden. Dann schlägt Distanz in Ablehnung um. Ansonsten sind wir ein sehr friedliches Völkchen. WELT: Die Zahl der Schulabbrecher hier ist so gering wie fast nirgendwo in Deutschland. Kein anderer Kreis in Thüringen hat so viele Kinder und junge Leute, so große Familien, einen so großen Anteil von Senioren, die von Angehörigen gepflegt werden. Ist das Eichsfeld ein etwas glücklicherer Ort als der Rest des Landes? Henning: Ich glaube schon. Ich treffe ja viele Besucher, die mir immer erzählen, die Eichsfelder seien so freundlich. Das ist kein Klischee. Ich nehme das als Indiz dafür, dass die Leute hier im Großen und Ganzen mit ihrem Leben zufrieden sind. WELT: In ihrer Amtszeit hat sich das Eichsfeld sehr verändert, im Grunde können Sie ja eine Miniaturgeschichte der deutschen Einheit erzählen. Was lief gut, was tat weh? Henning: Wir haben auch in der DDR unser privates Glück gefunden, unter all den Restriktionen aber in besonderer Weise im Grenzgebiet gelitten. Zur alten Bundesrepublik hatte dieser Landkreis eine Grenze von etwa 150 Kilometern. Also 150 Kilometer Stacheldraht und Selbstschussanlagen, besondere Kontrollen, viele Umsiedlungen und Zwangsevakuierungen. Die Öffnung der Grenzen war für uns ein Fest der Freiheit. Das Eichsfeld wurde, abgesehen von der weiteren unterschiedlichen föderalstaatlichen Organisation, emotional und regional wiedervereinigt, kleinere Teile liegen ja auch in Hessen und ein mittelgroßer Teil in Niedersachsen. Es gab wunderbare Begegnungen von Ost und West. Von dieser Begeisterung zehren wir bis heute. WELT: Ihr Landkreis steht heute wirtschaftlich gut da. Doch in den 90er-Jahren mussten Sie durch ein Tal der Tränen: Abwanderung, Arbeitslosigkeit, Angst vor der Zukunft. Der Kampf um die Schließung des im Eichsfeld gelegenen Kali-Werks Bischofferode wurde geradezu zum Symbol für die Härte dieser Zeit. Henning: Bischofferode hat sehr, sehr viele Facetten. Die Schließung des Grubenbetriebes war zu Beginn eine große Erschütterung für die Kumpel, für die Familien, die vom Kalibergbau seit 100 Jahren leben. Die Erfahrung dieses Zusammenbruchs wurde aber schnell politisch überlagert und instrumentalisiert. Sie führte auch zu einer Renaissance von Klassenkampfbegriffen, die überhaupt nicht zu uns passten. WELT: Der Marxismus, der es im Eichsfeld immer schwer hatte, war plötzlich virulent? Henning: Der Marxismus der DDR-Zeit, der für uns eine Belastung in der Schule und im Studium war, entwickelte sich plötzlich zu einem Erklärmuster wider Willen. Und der Westen ist in seiner ja zum Teil als Heilsbringer empfundenen Darstellung jämmerlich untergegangen. Es hat Jahre gebraucht, das alles zu verdauen. Heute ist es Geschichte. Bei allen Problemen sind wir alles in allem gut durchgekommen. WELT: Wie sehr hat die Zuwanderung das Eichsfeld verändert? Henning: Zuwanderung hatten wir immer. In der DDR wurde etwa aus dem Dorf Leinefelde eine mittelgroße Stadt, weil dort der Großbetrieb der Baumwollspinnerei angesiedelt wurde. Damit verbunden war der Zuzug von tausenden Menschen. In Grenzdörfer kamen Soldaten, welche wir am Ende auch alle zumeist integrieren konnten. Viele haben hier ihre Ehefrauen gefunden. Die sollten uns sozialistisch machen, am Ende wurden nicht wenige von Ihnen katholisch. Aber man ist hier natürlich auch nichtkonfessionell willkommen. Entscheidend ist anständiges Verhalten. WELT: Und die Zuwanderung seit 2015? Henning: Ohne Zuwanderung aus dem Ausland kann auch das Eichsfeld nicht stabil bleiben, das sehen wir heute schon in Pflegeberufen und Krankenhäusern. Es kommt auf das Maß an. Und darauf, wer mit welchen Ambitionen zu uns kommt. WELT: Wie klappt es mit der Integration? Henning: Wenn ich wüsste, was das sein soll, diese Integration. Ich frage immer nach, etwa auf Landesebene, eine klare Antwort gibt es nicht. Was wir Integrationskurse nennen, sind in Wahrheit Sprachkurse. Die Erwartung, Integration zum Handwerk zu machen, hat die Politik bis heute nicht erfüllt. Wir segeln am Limit. WELT: Wir feiern gerade 75 Jahre Grundgesetz. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, heißt es da. Haben Sie Zweifel, dass man dieses individuelle Recht auf einen Asylantrag noch halten kann? Henning: Ich feiere diesen Paragrafen als ein aufklärerisches Ideal der Menschheit, vor dem Hintergrund leidvoller deutscher geschichtlicher Erfahrung. Aber ob wir heute noch die Kraft haben, in einer veränderten Welt diesen herrlichen Impetus, weiter so eins zu eins ins Werk setzen zu können? Ich habe da meine Zweifel. WELT: Warum? Henning: Der Staat verlangt von mir, Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen und zu integrieren. Gleichzeitig kann ich meine Bevölkerung auch nicht überfordern. Das auszubalancieren, ist inzwischen fast unmöglich. Der Staat verlangt von mir als Landrat etwas, was ich über weite Strecken gar nicht liefern kann. Und das empfinde ich als ungehörig. WELT: In der DDR gab es keine kommunale Selbstverwaltung, die wurde erst 1990 von der demokratisch gewählten Volkskammer beschlossen. Wie viel Freiraum hatten Sie als Landrat wirklich? Henning: In den ersten zehn Jahren hatte ich ungemein viel Freiraum. Die ideologische Enge der DDR war weg. Ich konnte auch nach der Wende nicht machen, was ich wollte, es gab ja immerwährendes Recht und Gesetz, daran habe ich mich immer selbstverständlich gehalten. Aber es gab Spielräume, die ich genutzt habe, um den Landkreis erfolgreich zu machen. WELT: Und diese Spielräume sind kleiner geworden? Henning: Leider ja. Mein Credo war immer: Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Leben und leben lassen, das ist hier unsere Devise. Heute gibt es ein Übermaß an kleingedruckten Regelungen. Aus dem Landtag, dem Bundestag, der Europäischen Union. Nach der Wende war das Landratsamt eine Management-Agentur. Wir haben im Rahmen der Rechtsnormen das Leben gestaltet. Heute sind wir im Grunde eine juristische Kanzlei. WELT: Was hat das für Folgen? Henning: Der Freiraum für gesunden Menschenverstand ist eng begrenzt durch Bürokratie. WELT: Zu viele Vorschriften? Henning: Viel zu viele. Die Suche nach Exaktheit, nach dem letzten Komma, mit dem vom Gesetzgeber noch Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit abgewogen wird, hat eine Schattenseite. Diese ganz präzise Normierung führt dazu, dass die Normierung nicht mehr ein Instrument zur Gestaltung des Lebens ist. Sondern umgekehrt den Menschen in eine Geiselhaft für die Norm nimmt. WELT: In Thüringen ist gerade Wahlkampf. Es gibt wohl keine Partei, die nicht Bürokratieabbau verspricht. Und nach den Wahlen wird dann doch wieder draufgesattelt. Wohin führt das? Henning: Zu Ermüdung und Frustration. Die wichtigste Erkenntnis nach 34,5 Jahren für mich lautet: Eigentlich wollen die Leute in Ruhe gelassen werden. Bitte belehrt uns nicht ständig, schreibt uns nicht immer wieder aufs Neue vor, wie wir leben oder reden sollen. Wir sind keine Versuchskaninchen für gesellschaftlich-staatliche Experimente, das hatten wir in der DDR. Wenn die Leute ihre Ruhe haben wollen, ist das doch kein Freibrief für Verantwortungslosigkeit. WELT: Sondern? Henning: Wenn Politik Änderungen und Eingriffe für unabdingbar hält, muss sie das bitte ebenso vernünftig erklären, wie handhabbar umsetzbar machen. Das misslingt aber oft. Zwischen den juristisch exzellent gedachten Normen und dem wahren Leben klafft eine große Lücke. Und da entsteht dann Politikverdrossenheit. WELT: Ihnen scheinen die Leute zu trauen. Bei der letzten Wahl im April 2018 haben Sie sogar 82,3 Prozent bekommen… Henning: Ich hatte auch mal einen Ausrutscher nach unten, bloß 70 Prozent (lacht)… WELT: ...trotzdem ein Traumergebnis. Wie schafft man das? Was empfehlen Sie Ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern? Henning: Ehrlichkeit, Barmherzigkeit. Lebensklugheit hilft auch. Nehmt die Dinge nicht so absolut. Da möchte ich Lessing zitieren: „Die reine Wahrheit ist nur für Dich (Gott) allein. Der Besitz der Wahrheit macht ruhig, träge und stolz. Nur der Trieb nach Wahrheit macht den Wert des Menschen.“