Tuesday, December 19, 2023

Nato an russischer Nordwestgrenze: Putin ist wütend und droht Finnland und Lettland

Berliner Zeitung Nato an russischer Nordwestgrenze: Putin ist wütend und droht Finnland und Lettland Artikel von Thomas Fasbender • 7 Std. Am Wochenende verkündete der russische Präsident Wladimir Putin die Schaffung eines neuen, sechsten Militärbezirks für Sankt Petersburg. Mannshohe Grenzpfähle markieren die rund 1300 Kilometer lange finnisch-russische Grenze, blau-weiß gestreift auf der finnischen Seite, rot-grün auf der russischen. Der längste Teil ist unbefestigt. Lediglich im Süden werden Teilstücke von bis zu 260 Kilometer Länge mit Hochdruck ausgebaut. 139 Millionen Euro wurden 2023 in Zäune und Schutzanlagen investiert. Sie sollen beseitigen, was man „grüne Grenze“ nennt – die Möglichkeit zum unkontrollierten Übertritt. Russlands Einmarsch in der Ukraine vor zwei Jahren und der finnische Nato-Beitritt im vergangenen Frühjahr haben eine jahrzehntelang weitgehend entspannte Nachbarschaft zur Frontlinie zwischen Russland und dem Westen gemacht. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass die russische Führung mit dem Beitritt nicht gerechnet hat. Noch weiß der Kreml nicht genau, wie er mit der neuen Lage umgehen soll. Vor wenigen Tagen verkündete der russische Präsident die Schaffung eines neuen, sechsten Militärbezirks für Sankt Petersburg, wohl zulasten des bisherigen westlichen Militärbezirks. Gleichzeitig testet Russland die finnische Entschlossenheit. Von September bis November stieg die Zahl der Asylsuchenden aus Afrika und der islamischen Welt, die aus Russland kommend die finnische Grenze überquerten. Im November waren es laut Angaben der finnischen Grenzschutzbehörden rund 900 Personen. Diese Migranten nutzen die offiziellen Grenzübergänge, besitzen aber keinerlei finnische Einreiseerlaubnis. In der Vergangenheit hätten die russischen Grenzer sie gar nicht auf die finnische Seite gelassen – jetzt scheint man sie in Russland sogar mit Fahrrädern auszustatten, um die Distanz zwischen den teils weit auseinanderliegenden Posten zu überwinden. Nachdem der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko das Gleiche an der Grenze zu Polen und Litauen ausprobiert hat – damals auch schon mit russischer Unterstützung –, gehört die halbstaatliche Schleuserei zum etablierten Instrumentarium hybrider Kriegsführung. Finnland reagierte mit der knochentrockenen Konsequenz, die das Land in Krisensituationen auszeichnet. Am letzten Novembertag wurden sämtliche Grenzübergänge nach Russland geschlossen. Als die Finnen am 14. Dezember einen Grenzübergang versuchshalber öffneten und sich sogleich drei Dutzend Migranten auf den Weg machten, senkte sich der Schlagbaum erneut. Die Straße zum geschlossenen Grenzübergang Vaalimaa zwischen Finnland und Russland in Virolahti, Finnland Putin sitzt in der Zwickmühle. Mehr als auf dicke Hose machen kann er nicht, denn jeder Übergriff auf Nato-Territorium würde den Bündnisfall auslösen. So bleibt ihm nur, den Finnen abstrakt mit „Problemen“ zu drohen. Und den Westen zu beschuldigen, das Ganze eingefädelt zu haben. „Der Westen hat Finnland genommen und in die Nato geschleppt. Warum, hatten wir irgendwelchen Streit mit Finnland? Alle Meinungsverschiedenheiten, auch die territorialen gegen Mitte des 20. Jahrhunderts, sind längst gelöst“, sagte er in einem Interview vom Sonntag. Nicht nur Finnland, auch dem Baltikum gegenüber schraubt der russische Präsident seine Rhetorik hoch. Vor allem die lettische Regierung erweckt seinen Zorn. Dort ist annähernd ein Viertel der Bevölkerung russischsprachig und russischstämmig; entsprechend groß sind die Bestrebungen, diese Menschen zu „lettisieren“. So wird dieser Tage im lettischen Parlament ein Gesetz verhandelt, demzufolge es verboten werden soll, in Stellenanzeigen Russischkenntnisse zu verlangen – außer bei Hochschulangehörigen, Archivaren, Bibliothekaren sowie Journalisten und Autoren. Als Lettland im Dezember begann, russischsprachige Einwohner, die nur mit einer Aufenthaltserlaubnis dort leben und sich einem lettischen Sprachtest verweigern, nach Russland abzuschieben, kommentierte Putin: „Es wird kein Glück kommen in die Häuser derjenigen, die solche Politik betreiben.“ Wenn ein Land seine Bürger wie Schweine behandele, falle die Schweinerei irgendwann auf es selbst zurück. Die Wut, die sich bei Putin regelmäßig in Gossensprache Luft verschafft, hat einen Grund. Während seiner Amtszeit hat der Präsident das verhasste westliche Bündnis buchstäblich vor die russische Haustür geholt. Bei Boris Jelzins Abgang am Silvestertag 1999 begegneten sich Nato und Russland nur entlang der rund 200 Kilometer langen russisch-polnischen Grenze im ehemaligen Ostpreußen. Heute, 23 Putin-Jahre später, sind es mehr als 2500 Kilometer vom Polarkreis bis zur Ostsee. Wirtschaftlich ist die Konfrontation für alle beteiligten Ländern – Russland, Finnland, Baltikum – mit erheblichen Einbußen behaftet. Besonders die Finnen bekommen das zu spüren. Anders als das übrige Westeuropa hatten sie sich, obwohl marktwirtschaftlich und demokratisch konstituiert, nach 1945 aus dem Kalten Krieg herausgehalten. Stattdessen setzten sie auf das Nebeneinander von David und Goliath. Möglich wurde das, weil Finnland im Winterkrieg gegen die Sowjetunion 1939/40 bewiesen hatte, zu welchen Abwehrleistungen ein entschlossenes Volk und eine entschlossene Armee in der Lage sind. Trotz territorialer Verluste sicherte sich Finnland damit den dauerhaften Respekt der russisch-sowjetischen Nachbarn. Schon der Handel mit der Sowjetunion war umfangreich und profitabel; die Jahrzehnte nach 1990 brachten dem Nebeneinander dann eine ungeahnte Blüte. Im Rekordjahr 2013 überquerten zwölf Millionen Menschen die gemeinsame Grenze. Zahllose Russen besitzen (oder besaßen) Feriendomizile an den finnischen Seen; allein die Region um die grenznahe Stadt Lappeenranta verzeichnete vor dem Ukraine-Krieg zwei Millionen russische Touristen im Jahr. Bürgermeister Kimmo Jarvi spricht von 3000 Russen, die dort permanent lebten. Die finanziellen Verluste aus dem weggebrochenen Tourismus (und dem Grenzverkehr zum Einkaufen in finnischen Geschäften) beziffert er auf eine Million Euro – täglich. Ähnlich negativ wirkt sich der politische Druck auf wirtschaftliche Abkoppelung vom russischen Markt in den baltischen Ländern aus. Die Menschen der Nahtstelle zwischen Ost und West zahlen den Preis der Konfrontation.