Friday, September 22, 2023

Russen im Baltikum: Nicht auf Putins Seite

Frankfurter Allgemeine Zeitung Russen im Baltikum: Nicht auf Putins Seite Artikel von Reinhard Veser • 1 Std. Lettland, Riga: Helfer legen Blumen am abgezäunten sowjetischen Siegesdenkmal nieder. Überschattet von Russlands Krieg gegen die Ukraine haben Angehörige der starken russischen Minderheit in Estland und Lettland den „Tag des Sieges“ begangen. In zwei Mitgliedstaaten von EU und NATO leben große russischsprachige Minderheiten: In Lettland stellt sie knapp 30 Prozent der Einwohner, in Estland gut 27 Prozent. Im Alltag leben Mehrheit und Minderheit in beiden Ländern meist spannungsfrei miteinander. Doch Russlands Überfall auf die Ukraine im vorigen Jahr hat für Esten und Letten die Frage akut werden lassen, welchem Land die Loyalitäten der russischsprachigen Minderheiten im Baltikum im Konfliktfall gelten würden: Estland und Lettland oder Russland? Da der Kreml beansprucht, Schutzherr aller Russen auch außerhalb der Grenzen Russlands zu sein, und zudem bestrebt ist, Unruhe und Instabilität in westlichen Gesellschaften zu schüren, könnte von den russischsprachigen Minderheiten theoretisch ein Sicherheitsproblem für EU und NATO ausgehen, stünden sie auf der Seite des russischen Regimes. Solche Sorgen waren schon nach der Annexion der Krim 2014 geäußert worden. Das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Riga hat in Lettland und Estland von den dort führenden Meinungsforschungsinstituten im April und Mai Umfragen zur Einstellung der russischsprachigen Einwohner vornehmen lassen. Die nun veröffentlichten Ergebnisse zeigen: Die Ansichten der Russischsprachigen in Estland und Lettland zu Russlands Krieg gegen die Ukraine unterscheiden sich deutlich von denen der Esten und Letten, die mit großer Mehrheit klar auf der Seite des angegriffenen Landes stehen. Aber zugleich sympathisiert auch nur eine Minderheit in der Minderheit mit Russlands Regime. Aus den Antworten auf Fragen zur Ukraine, zu Russland, zum Westen und zur Situation im eigenen Land ergibt sich das differenzierte Bild einer verunsicherten und alles andere als monolithischen Bevölkerungsgruppe. Viele geben sich neutral Bezeichnend ist, dass bei vielen Fragen der Anteil derer hoch ist, die keine Position beziehen wollen. So gibt jeweils etwa die Hälfte der befragten Russischsprachigen in Lettland und Estland an, beim Krieg in der Ukraine mit keiner Seite zu sympathisieren. Rund ein Viertel ergreift Partei für die Ukraine. Noch niedriger ist indes der Anteil derer, die auf der Seite Russlands stehen: Es sind 17 Prozent in Estland und 14 Prozent in Lettland. Diese Zahlen korrespondieren mit den Ansichten zu Russland: In beiden Ländern geben etwa ebenso viele Russischsprachige an, die Politik von Präsident Wladimir Putin zu mögen, während in Lettland 50 Prozent und in Estland 44 Prozent von ihnen sagen, dass sie zwar Russland mögen, nicht aber Putins Politik. Immerhin 23 Prozent der Russischsprachigen in Estland sagen sogar, dass sie weder Russland noch dessen Politik mögen; in Lettland liegt dieser Wert bei zwölf Prozent – entsprechend höher ist dort der Anteil derer, die keine Angaben machen. Durchgehend bei allen Fragen zeigt sich, dass eine relative Mehrheit der Russischsprachigen in den beiden Ländern auf Distanz zu Russland geht. So geben 48 Prozent in Lettland und 41 Prozent in Estland an, ihr Bild von Russland habe sich seit Beginn der Invasion in der Ukra­ine verschlechtert. 47 Prozent der Russischsprachigen in Lettland und 40 Prozent derer in Estland stimmen der Aussage zu, Russland sei eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit in Europa. Gefahr ethnischer Konflikte wird als gering eingeschätzt Auch den Westen, vor allem die Vereinigten Staaten und die NATO, sehen die Russischsprachigen mit deutlicher Skepsis. Verschiedene antiwestliche Narrative der Kremlpropaganda, die dem Westen die Schuld am Krieg in der Ukraine geben, stoßen bei etwa vierzig Prozent von ihnen auf Zustimmung. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit einer Zustimmung zur russischen Politik. In Lettland geben 32 Prozent der Russischsprachigen Russland die Hauptschuld am Krieg, in Estland 30 Prozent; damit liegt es jeweils vor den Vereinigten Staaten. Und eine absolute Mehrheit von jeweils 54 Prozent äußert die Ansicht, Russland habe kein Recht gehabt, zu militärischer Gewalt zu greifen; immerhin ungefähr ein Viertel sieht das jedoch anders. Die Gefahr ethnischer Konflikte in Lettland und Estland schätzt jeweils eine Mehrheit der Russischsprachigen dort als gering ein. Gut fünfzig Prozent von ihnen halten das für zwar möglich, aber unwahrscheinlich. Zwischen beiden Ländern besteht in diesem Punkt allerdings ein deutlicher Unterschied: In Estland halten dreißig Prozent solche Auseinandersetzungen für gänzlich unmöglich und nur 14 Prozent für wahrscheinlich, in Lettland sind diese Werte fast genau umgekehrt verteilt. Das kann mit der innenpolitischen Auseinandersetzung über den Abriss sowjetischer Kriegsdenkmäler zu tun haben, die voriges Jahr zu Rangeleien zwischen russischsprachigen Demon­s­tranten und Polizei geführt hat. 63 Prozent der Russischsprachigen in Lettland geben auch an, die Einstellung der Letten ihnen gegenüber habe sich seit Russlands Überfall auf die Ukraine verschlechtert – eine Einschätzung, die in ähnlichem Ausmaß von den Letten selbst geteilt wird. Voriges Jahr, als in Lettland schon einmal eine Umfrage mit fast gleichlautenden Fragen geführt wurde, lagen diese Werte um zwanzig Punkte niedriger. Das kann auf eine wachsende Polarisierung in der Gesellschaft Lettlands durch Russlands Krieg gegen die Ukraine hindeuten. Eindeutig ist der Trend aber nicht, denn zugleich ist auch die Distanz der russischsprachigen Einwohner Lettlands gegenüber Russland leicht gewachsen. Und die junge Generation russischsprachiger Einwohner Lettlands wendet sich deutlich von Russland ab: So stehen 48 Prozent der Befragten bis 34 Jahre auf der Seite der Ukraine. Und über alle Altersgruppen hinweg bezeichnen sich sowohl in Lettland als auch in Estland 65 Prozent der Russischsprachigen als Patrioten des Landes, in dem sie leben.