Tuesday, September 26, 2023
Migration: Europa schaut auf die Grünen
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Migration: Europa schaut auf die Grünen
Artikel von Von Josef Kelnberger, Brüssel •
10 Std.
Innenministerin Faeser (li.) verhandelt auf EU-Ebene die Migrationspolitik, für Deutschlands Blockade sind aber Baerbocks Grüne verantwortlich.
Nancy Faeser sitzt am Tisch, wenn die Innenminister in Brüssel darüber beraten, warum es mit der großen Asylreform nicht vorangeht. Aber die Antworten müsste Außenministerin Annalena Baerbock geben.
Europa schaut auf die Grünen
Annalena Baerbock ist in der Bundesregierung für Äußeres zuständig, nicht für Inneres. Das ist Nancy Faesers Sache. Dennoch wird Baerbock (Grüne) an diesem Donnerstag neben Faeser (SPD) unsichtbar mit am Tisch setzen, wenn die Innenministerinnen und Innenminister in Brüssel über dringende Migrationsfragen in der Europäischen Union beraten. Ein wichtiges Thema auf der Agenda: Die Arbeit an der großen europäischen Asylrechtsreform, dem Vorzeigeprojekt der europäischen Migrationspolitik, liegt derzeit auf Eis, und zwar wegen einer deutschen Blockade, für die die Grünen verantwortlich sind, Baerbocks Partei. Und Annalena Baerbock hat mit ihren jüngsten Äußerungen in Brüssel für mehr für Verwirrung als für Aufklärung gesorgt.
Der Streit dreht sich um die sogenannte Krisenverordnung, den letzten großen Baustein der Asylreform. Baerbock erklärt den Widerstand der Grünen jetzt damit, diese Verordnung biete Staaten wie Italien oder Griechenland noch mehr Anreiz, unregistrierte Flüchtlinge nach Deutschland weiterzuschicken. Das ist ein gänzlich neues Argument. Bislang hatten die Grünen ihr Veto damit begründet, sie wollten verhindern, dass geflüchtete Menschen in den Asylverfahren noch mehr Rechte verlieren als bislang schon geplant.
Schielen die Grünen auf die Landtagswahlen im Oktober?
Unter den Diplomaten, die im Namen ihrer Mitgliedsländer in Brüssel die Reform beraten, wird die Wende vorwiegend als innenpolitisches Manöver gewertet: Die Grünen wollten ihrer Basis vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen am 8. Oktober weitere Zumutungen in der Asylpolitik ersparen - und zugleich den Eindruck erwecken, es gehe ihnen vor allem darum, die Zahl der nach Deutschland kommenden Migranten zu begrenzen.
Tatsächlich ist die Krisenverordnung nicht "nachträglich" auf die Agenda gekommen, wie Baerbock nahelegt. Sie war von Anfang an Teil der Gesetze, die die EU-Kommission vorgelegt hat und die in abschließenden Verhandlungen zwischen Mitgliedsländern und Europaparlament im Paket beschlossen werden sollen.
Für Staaten wie Italien und Griechenland ist die Krisenverordnung untrennbar verbunden mit der spektakulären Reform der Asylverfahren, über die man sich im Juni in Luxemburg im Grundsatz verständigte: Die Staaten an den Außengrenzen sollen künftig im Schnellverfahren über Anträge von Asylbewerbern entscheiden, die aus Ländern mit geringer Anerkennungsquote (unter 20 Prozent) kommen. Diese Menschen sollen bis zur Entscheidung in Lagern festgehalten und schnell wieder abgeschoben werden.
Annalena Baerbock hat im Namen der Grünen zugestimmt, obwohl auch Familien mit Kindern in den Lagern festgehalten werden könnten, was in der Partei heftigen Wirbel auslöste. Auch deshalb legte sie wohl ihr Veto ein, als einige Wochen später im Rat der Mitgliedsländer über eine von der spanischen Ratspräsidentschaft erarbeitete, gemeinsame Position zur Krisenverordnung abgestimmt wurde. Die deutsche Regierung enthielt sich der Stimme, weshalb die erforderliche qualifizierte Mehrheit (etwa zwei Drittel) nicht zustande kam.
Deutschland sitzt in einem Boot mit Staaten, die noch härtere Regeln fordern
Die Krisenverordnung sieht Regeln für den Fall vor, dass Staaten überlastet sind von der Migrationssituation - zum Beispiel, wenn Migranten von anderen Staaten "instrumentalisiert" werden, um die EU unter Druck zu setzen. Im Krisenfall sollen die Rechte der Geflüchteten noch einmal massiv eingeschränkt werden. Es könnten noch mehr Menschen in Lagern festgehalten werden, bis zu 40 Wochen lang. Allerdings können die Staaten den Krisenfall nicht im Alleingang ausrufen, wie die Äußerungen von Baerbock vermuten lassen. Die anderen Mitgliedsländer müssten zustimmen, die Kommission würde darüber wachen.
Es ist nicht zu erwarten, dass Nancy Faeser am Donnerstag im Namen der Ampel Kompromissbereitschaft signalisieren kann. Eine Abstimmung ist bislang nicht vorgesehen. Deutschland sitzt weiterhin in einem Boot mit den Regierungen in Ungarn, Polen, Tschechien und Österreich, die noch härtere Regeln für den Krisenfall fordern oder gar jegliche europäische Standards im Umgang mit Migranten ablehnen. Die spanische Ratspräsidentschaft hat es bislang nicht geschafft, andere Mehrheiten zu organisieren. Und das Europaparlament hat seine Drohung wahr gemacht: Wenn die Mitgliedstaaten nicht zu allen Punkten der Asylrechtsreform gesprächsbereit sind, gibt es gar keine Verhandlungen mehr. Die Gespräche liegen auf Eis, der Druck auf die deutsche Regierung wächst, und auch die Spannungen innerhalb der Ampel dürften wachsen.
Maßgebliche Grüne im Europaparlament setzen nach wie vor darauf, dass das ganze Asylpaket aufgeschnürt wird und bis zur Europawahl im nächsten Jahr nur einzelne Teile verabschiedet werden - vor allem jene, die sich mit der Registrierung und der Sicherheitsüberprüfung von Migranten befassen. Sie lehnen Asyl-Schnellverfahren ebenso ab wie die Regeln der Krisenverordnung. Es ergebe gar keinen Sinn, einzelne Gesetze zu verhandeln, sagt dagegen Jan-Christoph Oetjen, der migrationspolitische Sprecher der FDP im Europaparlament. Am Ende würden Länder wie Italien und Griechenland sich verweigern, wenn nicht auch der Krisenfall geregelt sei.
Der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai bezeichnete die Grünen wegen ihrer "Blockaden" zuletzt als "Sicherheitsrisiko". So weit würde er in der Wortwahl nicht gehen, sagt sein Parteikollege Oetjen. Aber die Argumente, die Annalena Baerbock nun gegen die Krisenverordnung vorlegt, halte er für "vorgeschoben". Die Grünen stünden mit in der Verantwortung, das ganze Asylpaket bis zur Europawahl auf den Weg zu bringen. Und die Zeit werde knapp.