Sunday, September 17, 2023
Irreparabel beschädigt
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Irreparabel beschädigt
Artikel von Günter Bannas •
57 Min.
Machiavellistin Merkel? Die Kanzlerin und FDP-Außenminister Guido Westerwelle am 17. Januar 2013 im Deutschen Bundestag.
Bei der Bundestagswahl am 27. September 2009 erzielten CDU und CSU mit 33,8 Prozent der Zweitstimmen zum zweiten Male nacheinander ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949, obwohl sie in Gestalt von Angela Merkel seit 2005 vier Jahre lang die Bundeskanzlerin einer großen Koalition gestellt hatten. Sie freuten sich trotzdem: Merkel konnte Regierungschefin bleiben. Die FDP aber feierte ihr bestes Ergebnis aller Zeiten: 14,6 Prozent hatte sie unter ihrem Vorsitzenden Guido Westerwelle erreicht. Schwarz-Gelb hatte erstmals seit elf Jahren wieder eine Mehrheit im Bundestag. Schnell wie nie lag der Koalitionsvertrag vor. Keine vier Wochen nach der Wahl wurden die neuen Minister vorgestellt und Merkel vom Bundestag zur Kanzlerin gewählt. Beiläufig freilich ließ sie wissen, auch mit der SPD gut und gerne zusammengearbeitet zu haben. Nun eben mit der FDP. Für die Liberalen aber sollte die folgende 17. Legislaturperiode eine Zeit des Schreckens werden – mit üblem Ende vor nun zehn Jahren.
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Vordergründig sahen sich die Unionsparteien und die FDP als „natürliche“ Koalitionspartner an. Sogar das Ansinnen von Merkel-Vertrauten gab es, man könne auf einen Koalitionsvertrag verzichten, zumal derlei Papiere regelmäßig von der Wirklichkeit überholt würden. Schon 2005 hatten sich Merkel und Westerwelle ein Regierungsbündnis vorgenommen. Einvernehmlich präsentierten sie sich im offenen Cabrio. Horst Köhler setzten sie als Bundespräsidenten durch. Dass es 2009 nur zu einer großen Koalition gereicht hatte, lag am mageren Abschneiden von CDU und CSU. Rasch aber wurden die Risiken und Nebenwirkungen des neuen Wahlergebnisses sichtbar. Unionspolitiker machten deutlich, beim nächsten Male werde die FDP auf das ihr zukommende Maß zurückgestutzt werden, was als irgendwo zwischen sechs und neun Prozent liegend definiert wurde. Für die FDP wiederum rückten so viele junge und mithin so unerfahrene Abgeordnete in den Bundestag wie nie zuvor, Christian Lindner etwa und Bijan Djir-Sarai, der heutige FDP-Generalsekretär. Die jungen Liberalen wussten, sie müssten einige Ältere ausstechen, wollten sie länger als bloß vier Jahre Abgeordnete sein. Erfahrene Unionspolitiker hatten es mit ehrgeizigen Neulingen der FDP zu tun. CDU-Minister nannten – teils sogar öffentlich – ihre liberalen Kabinettskollegen überfordert. Die Union bremste die FDP aus, vor allem in Sachen Steuersenkung, womit die Westerwelle-FDP monothematisch in den Wahlkampf gezogen war: „Arbeit muss sich wieder lohnen“ und „Mehr Netto vom Brutto“. Zum Ende der Verhandlungen setzte die CDU-Seite „Goldene Regeln“ im Koalitionsvertrag durch – darunter diesen Spiegelstrich: „Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“
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Seit Bildung der großen Koalition 1966 war es üblich geworden, dass der kleinere Partner den Außenminister stellte, und in den Jahren von 1969 bis 1998, in denen die FDP an der Bundesregierung beteiligt war, hatte sie darauf bestanden, daneben noch in zwei weiteren zentralen Politikbereichen einen Minister zu stellen: Innen oder Justiz beziehungsweise Wirtschaft oder Finanzen. Angesichts der Herausforderungen durch die Euro- und die internationale Finanzkrise und wegen der herausragenden Bedeutung, die der SPD-Finanzminister Peer Steinbrück in der großen Koalition innegehabt hatte, wurde Westerwelle aus seiner Partei bedrängt, das Finanzministerium zu reklamieren. Hermann Otto Solms, ehedem FDP-Fraktionschef und seit Jahren der Finanzpolitiker seiner Partei, strebte dieses Amt an. Doch sah sich der FDP-Chef der Festlegung Merkels ausgesetzt, nicht abermals auf das Finanzministerium zu verzichten.
Eine Erfahrung aus ihrer großen Koalition mochte sie darin bestärkt haben. Als sich im Oktober 2008 die Sorge um die Stabilität des deutschen Bankensystems breitmachte, plante Steinbrück einen Alleingang. Er werde auf einer Pressekonferenz versichern, die Spareinlagen der Bürger seien „sicher“. Merkel bestand darauf, eine solche Versicherung sei ihre Sache. Nach ziemlichem Hin und Her traten beide gemeinsam auf. So etwas sollte sich nicht wiederholen. Ohnehin hatte Merkel vor, Wolfgang Schäuble mit dem Amt des Finanzministers zu betrauen. Manche FDP-Politiker glaubten an ein Entweder-oder: Entweder würde der FDP das Auswärtige Amt zukommen oder das Bundesministerium der Finanzen.
Hans-Dietrich Genscher, 18 Jahre lang Bundesaußenminister und als FDP-Ehrenvorsitzender im Hintergrund immer noch einflussreich, erinnerte den FDP-Chef dringlich an alte Traditionen. Westerwelle folgte und wurde Außenminister. Fortan mäkelten seine Kritiker in der FDP, er habe sich der Kanzlerin unterworfen. Seine Anhänger verwiesen darauf, das Finanzministerium sei nicht zu erreichen gewesen. Immerhin konnte Westerwelle darauf verweisen, für seine Partei die Führung so vieler Ministerien wie noch nie ausgehandelt zu haben. Für Rainer Brüderle, einst Landesminister für Wirtschaft und Weinbau von Rheinland-Pfalz und seit Jahren wirtschaftspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion, ging ein Traum in Erfüllung: Weil der FDP zur bleibenden Verbitterung von Solms die Führung des Finanzministeriums versagt wurde, wurde er Bundeswirtschaftsminister. Das Justizministerium kam wieder in die Hände der linksliberalen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Der jugendliche, in der Bundespolitik unerfahrene Philipp Rösler, der sich gerade in seinem Amt als Wirtschaftsminister von Niedersachsen eingerichtet hatte, folgte Westerwelles Aufforderung, Bundesgesundheitsminister zu werden. Und weil die CSU mit künftig drei statt zwei Ministern ruhiggestellt wurde, stellte Merkel den FDP-Chef vor die Alternative: entweder demnächst die Stelle eines EU-Kommissars oder ein zusätzliches fünftes Ministerium. Westerwelle nahm das weitere Ressort. Die FDP erhielt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Das war eine Zumutung, hatten die FDP und vor allem ihr Generalsekretär Dirk Niebel im Wahlkampf doch die Auflösung exakt dieses Ministeriums verlangt. Merkel lehnte das ab. „Ich lege mich doch nicht mit beiden Kirchen und 2500 Nichtregierungsorganisationen an“, so erinnern sich damals Beteiligte an die Einstellung der Kanzlerin. Niebel wurde neuer Entwicklungshilfeminister.
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Christian Lindner war bei seiner Wahl 2009 in den Bundestag 30 Jahre alt – und da schon so etwas wie ein Shootingstar der FDP. Dem nordrhein-westfälischen Landtag hatte er seit neun Jahren angehört. Mit 25 Jahren war er 2004 Generalsekretär der Landes-FDP geworden. Den Landtagswahlkampf 2005 hatte er halbwegs erfolgreich organisiert; mit der Bildung der schwarz-gelben NRW-Landesregierung unter Jürgen Rüttgers (CDU) war das Ende der rot-grünen Bundesregierung eingeleitet worden. Mitglied des Bundesvorstands war er auch. Westerwelle, Mitglied desselben Landesverbands und seit 2001 Bundesvorsitzender, hatte nach der erfolgreichen Regierungsbildung einen neuen Generalsekretär für die Bundes-FDP zu suchen. Doch er ließ sich Zeit, was seine Freunde im Rückblick als schlimmen Fehler bezeichnen. Der Parteiapparat der FDP sei kopflos und handlungsunfähig gewesen. Westerwelle konnte sich nicht entscheiden, ob er Lindner oder Patrick Döring aus Niedersachsen, der immerhin schon vier Jahre Mitglied des Bundestages war, zum Generalsekretär machen sollte. Ein kurzes Telefongespräch schließlich am Sonntag, dem 13. Dezember 2009. Westerwelle teilte Lindner mit, an ihn als Generalsekretär zu denken. Drei Fragen stellte der neue Vizekanzler: Liegt was vor, was dagegenspricht? Weißt du, was auf dich zukommt? Traust du dir das zu? Lindner sagte Ja. Westerwelle: „Gut, dann schlage ich dich vor.“ So geschah es tags darauf. Ein Gespräch über Erwartungen, Ziele, Aufgaben gab es nicht.
Bald schon registrierten Westerwelles Leute, dass die Loyalität Lindners zum Parteivorsitzenden zu wünschen übrig lasse. Lindner wiederum registrierte, Westerwelle nehme sich wenig Zeit für gemeinsame Strategiegespräche.
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Das schwarz-gelbe Bündnis nahm sich viel vor. Die Laufzeiten der Kernkraftwerke wurden verlängert. Die FDP setzte im Koalitionsvertrag eine Überprüfung der Wehrpflicht durch, deren „Aussetzung“ freilich vom CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg bewerkstelligt und mithin nicht der FDP zugute geschrieben wurde. Gleich zu Beginn der Zusammenarbeit wurde im Bundestag ein „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ durchgepeitscht – mit einer üblen Nebenwirkung. CSU und FDP bestanden auf einer Senkung des Mehrwertsteuersatzes auf Hotelübernachtungen von 19 auf sieben Prozent. Einige der begünstigten Unternehmen hatten den beiden Parteien Spenden zukommen lassen. Der Terminus „Mövenpick-Gesetz“ wurde zum Kampfbegriff. Als es zu spät war, wollte es keiner gewesen sein.
Minister redeten schlecht übereinander – teils öffentlich, mehr noch in den halb-öffentlichen Hintergrundgesprächen. Die CSU-Familienpolitikerin Dorothee Bär war verärgert, weil die FDP das Anliegen eines familienpolitischen Betreuungsgeldes im Koalitionsvertrag akzeptiert hatte, später im Alltag dann blockierte. Nachdem im Mai 2010 die schwarz-gelbe Regierung in Nordrhein-Westfalen die Landtagswahl verloren hatte, teilte Merkel mit, Steuersenkungen seien nun nicht mehr durchsetzbar – im Bundesrat fehle die Mehrheit dafür. Die FDP war empört – über Merkel und auch über Westerwelle, weil der abermals nicht genug gekämpft habe. Eigentlich müsse die FDP die Koalition kündigen, befanden FDP-Haushaltspolitiker gegenüber ihrem Parteivorsitzenden. In der FDP machte sich die Sichtweise breit, die Parteiführung schlucke alles, was Merkel wolle.
Deftige Auseinandersetzungen gab es auch – vor allem zwischen CSU und FDP. Der CSU-Landesgruppenvorsitzende Alexander Dobrindt nannte den Koalitionspartner eine „Gurkentruppe“, die FDP retournierte mit „Wildsau“. Merkel gab zu erkennen, die FDP müsse das Regieren wieder lernen. Die ärgerte das.
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Westerwelle, der erfolgreichste FDP-Wahlkämpfer aller Zeiten, hatte auch persönlich einen schlechten Start. Als ihm gleich zu Beginn seiner Amtszeit als Außenminister auf einer Pressekonferenz eine Frage auf Englisch gestellt wurde, reagierte er hochfahrend, hier werde Deutsch gesprochen. Dass er auf einer Auslandsreise nach Südamerika seinen Partner mitnahm, wurde als ungebührliches Verhalten bewertet. Obendrauf kam ein Gastbeitrag Westerwelles in der „Welt“ über sozialpolitische Vorstellungen in den Unionsparteien im Februar 2010: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“ Eine Welle der Empörung ging über ihn hinweg. War Westerwelle in seinen neuen Ämtern „angekommen“? Hätte so etwas, wenn schon, nicht vom – für Zuspitzungen und Krawall zuständigen – Generalsekretär verfasst werden müssen? Merkel hatte die Sache wohl niedrig hängen wollen. Doch nachdem Sabine Heimbach, eine stellvertretende Regierungssprecherin, sich ein „Das ist sicher weniger der Duktus der Kanzlerin“ hatte entlocken lassen, war aus einer Petitesse eine Koalitionskrise geworden. Wie es um das Verhältnis Merkel-Westerwelle bestellt sei, wurde gefragt. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) sagte: „Ich halte den Westerwelle für irreparabel beschädigt.“ Die Umfragedaten der Liberalen rauschten in den Keller.
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Anfang 2011 veröffentlichten Lindner, Rösler und Daniel Bahr in dieser Zeitung einen doppelbödigen „Neujahrsappell“. „Die erfolgreiche Oppositionsarbeit zur großen Koalition hatte allerdings dazu geführt, dass das Bemühen um thematische Verbreiterung und um die sympathische Vermittlung unserer konzeptionellen Vorschläge weniger dringlich erschien.“ In der Außenwahrnehmung wurden die drei jugendlichen Altersgenossen – der Generalsekretär, der Gesundheitsminister und dessen Parlamentarischer Staatssekretär – als Boygroup und Zukunft der FDP dargestellt. Zwar hieß es in dem von Lindner über die Weihnachtsferien entworfenen Text auch, die Personaldebatten in der Partei gefährdeten den „erforderlichen Erneuerungsprozess“. Doch indem Lob und Tadel am Parteivorsitzenden verknüpft waren, wurden die Debatten über Westerwelle fortgesetzt. Tatsächlich hatte Westerwelle zu Beginn seiner doppelten Belastung seinen engsten Berater und Staatssekretär Martin Biesel um Rat gefragt, ob er den Parteivorsitz abgeben und sich auf das Regierungsamt konzentrieren solle. Der riet davon ab. Die Führung der Partei sei die Machtbasis für alles.
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2011 wurde für die FDP ein „annus horribilis“. Die Vereinigten Staaten planten einen Militäreinsatz gegen den libyschen Machthaber Gaddafi. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, dem Deutschland damals angehörte, kam es zur Abstimmung. Merkel und Westerwelle wollten einen weiteren Bundeswehreinsatz vermeiden und verabredeten „Enthaltung“. Der Außenminister verhielt sich in New York entsprechend, was ihm von Amerikafreunden daheim bündnispolitisch als ein Anti-NATO-Affront und als Alleingang ausgelegt wurde. Am 11. März kam es zur Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima. Nicht zuletzt unter dem Druck der CDU und der CSU befand Merkel, eine Zeitenwende sei eingetreten: Es kam zum Atomausstieg. Westerwelle machte mit – gegen den hinhaltenden Widerstand von Teilen seiner Partei, des Wirtschaftsministers Brüderle etwa. Landtagswahlen im März wurden für die FDP zum Desaster. In Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz scheiterte die Partei an der Fünfprozenthürde. In Baden-Württemberg, das als „liberales Stammland“ galt, wurde sie halbiert und schaffte es gerade noch: 5,3 Prozent. Weil Westerwelle auf einer Auslandsreise nach Japan und China war, konnte er nicht eingreifen. Zurück in Deutschland fühlte er sich verlassen. Den Ratschlag Niebels, er solle das Ministeramt aufgeben und nach dem Fraktionsvorsitz greifen, lehnte er ab. Nun riet ihm Biesel zum Verzicht auf den Parteivorsitz, um das Ministeramt zu retten. Am Sonntag, dem 3. März 2011, bat Westerwelle die „Boygroup“ in seine Wohnung in Berlin-Charlottenburg: Lindner und Bahr kamen, Rösler wurde zugeschaltet. Westerwelle schilderte ihnen seine Lage. Die Partei versage ihm den Respekt und Dank. Er offerierte ihnen den Parteivorsitz. Angeblich hatte er eine Präferenz für Lindner. Doch es wurde der Älteste der Jungen – Philipp Rösler. Dass die „Bild“ schon vor dem Treffen Wind von Westerwelles Absicht bekommen und eine Schlagzeile „Hier ringt Rösler Westerwelle den Parteivorsitz ab“ vorbereitet hatte, charakterisierte den Zustand der Parteiführung.
Noch zwei weiteren FDP-Politikern rang Rösler den „Traumjob“ ab. Weil das Amt des Gesundheitsministers einem FDP-Chef nicht angemessen sei, hatte Wirtschaftsminister Brüderle an die Spitze der Bundestagsfraktion zu weichen. Birgit Homburger, die diese Funktion nach der Bundestagswahl erkämpft hatte, verzichtete und wurde mit der Aufgabe als „erste“ stellvertretende Parteivorsitzende abgefunden. Auf dem Parteitag im Mai in Rostock wurde gefeiert. Rösler hielt eine kampfesmutige Rede („Ab heute werden wir liefern“). Er erzählte eine Geschichte vom Frosch. Wenn man den in heißes Wasser werfe, springe er sofort heraus – nichts Schlimmes geschehe ihm. Wenn man freilich einen Frosch in kaltes Wasser werfe, verharre er. Wenn man dann das Wasser ganz langsam erhitze – „dann ist es zu spät“. Es folgten Röslers „So viel zum netten Herrn Rösler“ und seine Wahl zum Vorsitzenden mit 95 Prozent.
Brüderle kennzeichnete seine Ansprüche so: „Die Bundestagsfraktion ist die Herzkammer unserer politischen Arbeit.“ Westerwelle versicherte: „Ich werde meinem Nachfolger nicht ins Lenkrad greifen.“ Acht Minuten lang wurde der nun ehemalige Parteivorsitzende gefeiert.
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Nichts wurde besser. Volker Kauder, der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende, lobte die frühere Zusammenarbeit mit der SPD. Vor einer Klausurtagung der FDP-Fraktion auf Schloss Bensberg bei Köln war im Westerwelle-Lager die Vermutung aufgetaucht, Rösler, Lindner und andere wollten Westerwelle nun auch noch das Auswärtige Amt nehmen, zumal Rösler die Richtlinienkompetenz für die Außenpolitik zu beanspruchen schien. Biesel und der stellvertretende Regierungssprecher Christoph Steegmans planten einen Coup. Westerwelle werde, so wurde der „Rheinischen Post“ übermittelt, in der Fraktionsklausur die Vertrauensfrage stellen. Der Außenminister wusste zwar nichts davon. Doch die Meldung tat ihre Wirkung: aufgeregte Gespräche der Abgeordneten bis spät in die Nacht. Erst nachdem am Morgen danach klar geworden war, dass ein Entlassungsvorhaben scheitern würde, beauftragte Westerwelle den Sprecher, seine Absicht mit der Vertrauensfrage zu dementieren.
Es ging weiter bergab. Bei Wahlen in Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin kam die FDP nicht einmal in die Nähe von fünf Prozent. Rösler, kaum gewählt, war geschwächt. Der Rest des Jahres war geprägt von innerparteilichen Auseinandersetzungen über den Vorstoß des FDP-Abgeordneten Frank Schäffler, der einen Mitgliederentscheid gegen die Euro-Rettungspolitik der Bundesregierung und mithin der FDP-Führung initiierte. Rösler agierte ungelenk. Noch während des Abstimmungsverfahrens machte er bekannt, die Sache werde mangels ausreichender Beteiligung scheitern. Ein paar Tage später hatte Lindner, sein Generalsekretär, genug. Er sah keine Möglichkeiten der Einflussnahme, fühlte sich in der Parteispitze isoliert und zweifelte an den Führungsfähigkeiten und strategischen Klugheit Röslers, der immer aufs Neue ankündigte, mit „45“ aus der Politik auszusteigen.
In einem kurzen Gespräch reichte er seinem Vorsitzenden den Rücktritt ein – zu dessen Überraschung und genau zwei Jahre nach seiner Berufung durch Westerwelle. FDP-Politiker vermerkten, Lindner habe nicht viel hinterlassen – schon gar nichts, was seinen Auftrag betraf, ein neues FDP-Grundsatzprogramm zu entwerfen. Sein Nachfolger Patrick Döring fand eine „Loseblattsammlung“ vor.
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Merkel war besorgt – wegen der Auswirkungen der FDP-Krisen auf Stabilität und Ansehen der Koalition. Dass Rösler ohne Absprache mit ihr nach dem Rücktritt von Bundespräsident Christian Wulff im Februar 2012 Joachim Gauck, den Kandidaten von SPD und Grünen, unterstützte, empfand sie als Vertrauensbruch. Immerhin: Einmal hatte sich Rösler gegen die Kanzlerin durchgesetzt. In der FDP-Fraktion machte er Gebrauch davon. Sie habe „kein Problem damit“, wurde eine Äußerung Merkels kolportiert, „alle FDP-Minister rauszuwerfen“. Es kam nicht dazu. Merkel schluckte vieles – und beließ es äußerlich bei Ironie. CDU-Parteitag, Dezember 2012, Rede Merkels: „Gott hat die FDP vielleicht nur erschaffen, um uns zu prüfen.“ So sahen es die Delegierten auch.
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In der FDP war ein Kampf „Jeder gegen jeden“ ausgebrochen. Das „Team“ des Parteivorsitzenden Rösler agierte gegen das „Team“ des Fraktionsvorsitzenden Brüderle. Eigenem Bekunden zufolge unterschätzte Rösler die anhaltende Enttäuschung Brüderles, dass er ihm das Wirtschaftsministerium genommen hatte. Rösler sagte, der Bambus wiege sich im Sturm, aber breche nicht. Brüderle ließ sich mit der Bemerkung vernehmen, Glaubwürdigkeit gewinne man nicht, wie Bambus hin- und herzuschwingen, sondern zu stehen wie eine Eiche. Selbst in Gesprächen mit Merkel redeten die maßgeblichen FDP-Politiker und -Minister schlecht übereinander. Das Dreikönigstreffen 2013 in Stuttgart geriet zu einem kommunikativen Desaster. Brüderle wurde gefeiert. Niebel rief ein „So geht es nicht weiter“, weshalb ihm Putschgelüste unterstellt wurden. Rösler spielte eine Nebenrolle.
Nur so viel war klar: Der Parteivorsitzende könne und dürfe nicht der Führungsmann im Wahlkampf sein. Die Landtagswahl am 20. Januar 2013 in Röslers Heimat Niedersachsen solle entscheiden, ob er Parteichef bleiben dürfe. Doch siehe da: Die Niedersachsen-FDP gewann dazu. Rösler sah sich gestärkt. Die Partei brauche Führung, sagte er tags darauf im Präsidium und bot Brüderle den Parteivorsitz und das Wirtschaftsministerium an.
Brüderle zögerte. In einer „Auszeit“ fügte er sich dem Wunsch des Parteichefs, so etwas wie der Spitzenkandidat der Partei zu werden. Wieder drei Tage später erschien im „Stern“ ein Porträt unter der Überschrift „Der Herrenwitz“. Erzählt wurde eine Begebenheit, die ein Jahr zurücklag, beim Dreikönigstreffen. Abends an der Bar, Brüderle zu einer Journalistin: „Sie können ein Dirndl ausfüllen.“ Riesenwirbel. Tagelang. Tenor: Der Spitzenkandidat – ein Mann von gestern. Im Sommer musste Brüderle ins Krankenhaus: Sturz, Fraktur des Oberschenkelhalses. Ein schlechtes Omen?
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Eine Woche vor der Bundestagswahl scheiterte die FDP bei der Landtagswahl in Bayern an der Fünfprozenthürde. Sie hatte es versäumt, gegenüber ihrem CSU-Koalitionspartner durchzusetzen, Landtags- und Bundestagswahl am selben Tag abzuhalten. Ministerpräsident Seehofer holte die absolute Mehrheit. Panik in Berlin. „Wer Merkel haben will, wählt FDP“, spitzte Brüderle die Zweitstimmen-Kampagne der FDP zu.
„Wir brauchen beide Stimmen“, erwiderten die CDU-Wahlkämpfer. Am Abend des 22. September 2013 feierten sie wie lange nicht mehr. Ihre 41,5 Prozent hätten fast zur absoluten Mehrheit der Mandate gereicht. Die FDP aber landete bei 4,8 Prozent. Erstmals in ihrer Geschichte war sie nicht im Bundestag vertreten. Nun ausscheidende FDP-Abgeordnete vermerkten, nur Kollegen von SPD und Grünen hätten ihr Mitgefühl ausgesprochen. Solche von CDU und CSU aber nicht.
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Sein größter Fehler, äußerte Westerwelle Tage später gegenüber Vertrauten, sei sein Glaube gewesen, es habe ein gemeinsames Projekt mit der CDU gegeben. Und: „Merkel hat uns nicht das Schwarze unterm Fingernagel gegönnt.“ Absprachen seien nicht eingehalten worden.
Nichts wurde vergessen. Christian Lindner, der neue Chef, ließ 2017 die Jamaika-Sondierungsgespräche mit Merkels CDU und den Grünen platzen. 2021 im Ampelbündnis bestand er auf der Übernahme des Bundesfinanzministeriums. Von keiner Regierungspartei wird die CDU/CSU-Opposition so heftig attackiert wie von den Freien Demokraten. Jüngst noch beklagte der FDP-Haushaltspolitiker Otto Fricke Merkels damaligen „Machiavellismus“.
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Der Verfasser war bis zum Frühjahr 2018 Leiter der Parlamentsredaktion der F.A.Z. in Berlin.