Sunday, September 24, 2023
Flüchtlinge wohnen bald auf dem Friedhof, und Asylheime werden gegen den Willen der deutschen Kommunen durchgedrückt
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Flüchtlinge wohnen bald auf dem Friedhof, und Asylheime werden gegen den Willen der deutschen Kommunen durchgedrückt
Artikel von Fatina Keilani, Berlin •
7 Std.
Bürger protestieren gegen die geplante Flüchtlingsunterkunft in Upahl. ;Den Hilferuf erheben inzwischen Kommunen in ganz Deutschland, da sie mit der Unterbringung von Migranten überlastet sind. Bernd Wüstneck / DPA
Es klingt irgendwie morbide, ist aber wahr: Die Stadt Odenthal bringt Flüchtlinge demnächst in der Trauerhalle auf dem Friedhof unter. Das bestätigte die Integrationsbeauftragte der Stadt, Claudia Kruse. Odenthal liegt in Nordrhein-Westfalen und hat rund 14 000 Einwohner. «Wir ertüchtigen diese Trauerhalle gerade, weil im Herbst normalerweise noch mehr Wanderungsbewegungen nach Deutschland zu verzeichnen sind», sagte Kruse der NZZ. «Der Zustrom wird sich also noch verstärken, und wir haben einfach keine anderen Unterbringungsmöglichkeiten mehr.» Alle Unterkünfte seien bis auf den letzten Platz belegt. Dem Zustrom sei man ausgeliefert. «In den Kommunen kann man überhaupt nichts verändern. Das muss die Bundespolitik tun», sagt Kruse.
Nichts tun zu können, das bekommt eine andere Gemeinde ebenfalls gerade zu spüren: Im bayrischen Lenggries hat der Gemeinderat einstimmig gegen eine neue Asylunterkunft gestimmt – diese wird wohl dennoch gebaut. Geplant ist ein Containerbau im Gewerbegebiet mit Platz für rund hundert Personen. Lenggries hat rund 10 000 Einwohner. Der Gemeinderat hatte dagegen gestimmt, weil das Vorhaben «zu massiv» sei. Ausserdem wolle man die Gewerbetreibenden schützen.
Dem Bürgermeister Stefan Klaffenbacher (Freie Wähler) geht es darum, zumindest ein Zeichen zu setzen. «Dann wird man uns eben ersetzen müssen», sagt er. Damit ist gemeint: Wenn die Gemeinde gegen das Vorhaben ist, aber die Kreisebene als zuständige Genehmigungsbehörde sagt, baurechtlich könne man es nicht ablehnen, dann ersetzt die Genehmigungsbehörde das Einvernehmen, setzt sich also letztlich über den Willen der Gemeinde hinweg.
«Wir schaffen das nicht!», klagen die Kommunen seit Monaten
Möglich ist das, weil im Jahr 2015 eine Sonderregelung in das Baugesetzbuch eingefügt wurde, die es erlaubt, für die Schaffung von Flüchtlingsheimen vom Bebauungsplan abzuweichen. Diese Regelung wurde unter dem Druck der damaligen Flüchtlingswelle geschaffen, um schneller Unterkünfte bauen zu können. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel sagte damals den Satz «Wir schaffen das», der Berühmtheit erlangte.
Der Satz erweist sich jedoch zunehmend als unwahr. «Wir schaffen das nicht!», heisst es von immer mehr Kommunen. Am Donnerstag wurde ein Brandbrief des nordrhein-westfälischen Städte- und Gemeindebunds an den christlichdemokratischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst bekannt. 355 Bürgermeister schildern darin, dass sie den Belastungen nicht länger standhalten können. Die Gesamtlage verschlechtert sich. Auch andere Länder berichten von wegbrechenden Steuereinnahmen, dies bei steigenden Sozialausgaben. Der Bau von Wohnungen kommt ebenfalls nicht voran.
Bis jetzt dringen die Kommunen kaum zur Bundespolitik durch. Zwar wird ihnen bei Flüchtlingsgipfeln immer mal wieder finanzielle Hilfe zugesprochen, doch fehlt es in den Kommunen an Wohnraum, Schulplätzen, Lehrern, Kita-Plätzen, Erziehern, schlicht an allem Nötigen für ein normales Leben.
Es mangelt an allem: Wohnungen, Schulplätzen, Lehrern
«Es gibt gar keine Perspektive», schildert die Odenthaler Integrationsbeauftragte Claudia Kruse die Situation. «Wir können den Menschen, die zu uns kommen, hier in Deutschland keine Perspektive bieten. Wir machen nach aussen hin meiner Ansicht nach völlig falsche Versprechungen. Dem muss entgegengewirkt werden.»
Nach Einschätzung des deutschen Verfassungsschutzes gesichert rechtsextremistische Initiativen wie der Dresdner Verein «Ein Prozent» haben begonnen, die Bürger zum Widerstand zu animieren. Auf ihrer Website liefert die Initiative eine Anleitung zur Selbsthilfe: «So verhindert ihr das Asylheim!» Dort wird erklärt, wie man ein Bürgerbegehren organisiert. Am Ende aber kann auch mit einem solchen kein Asylheim verhindert werden.
Das Dörfchen Upahl in Mecklenburg-Vorpommern wehrte sich erbittert gegen einen Containerbau für 400 Flüchtlinge – das Dorf hat 500 Einwohner. Nach Protesten und Klagen werden nun Plätze für 250 Asylbewerber geschaffen. Die Personen sollen noch diesen Monat umziehen.
Im Ort Upahl in Mecklenburg-Vorpommern werden trotz Bürgerprotesten Container zur Unterbringung von Asylbewerbern aufgestellt. Jens Büttner / DPA
Die Kommunen in Deutschland ächzen schon seit langer Zeit unter dem nicht abreissenden, sich immer noch weiter steigernden Zustrom von meist jungen alleinstehenden Männern ohne Ausbildung, die aufgrund der Besonderheiten des deutschen Rechtssystems zunächst nicht arbeiten dürfen und auf Kosten des Steuerzahlers leben, was in der Bevölkerung zu Unverständnis und Ablehnung führt. In Deutschland dürfen Asylbewerber mindestens drei Monate gar nicht arbeiten und danach nur, wenn sie nicht mehr in einer Unterkunft leben. Da es aber zu wenige Wohnungen gibt, wohnen viele wesentlich länger in Gemeinschaftsunterkünften.
Zu den Besonderheiten in Deutschland zählt die Verwechselung der Begriffe. Die Politik diskutiert über Asyl-Obergrenzen, obwohl das Asyl zahlenmässig nicht relevant ist. Wer an der Grenze das Wort «Asyl» sagt, darf ins Land und bekommt ein Verfahren, wie die sozialdemokratische deutsche Innenministerin Nancy Faeser gerade erst am Mittwoch im Bundestag bestätigt hat. Sie bestätigte auch, dass es sich bei den Ankommenden zu einem grossen Teil um Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben handelt, die nicht schutzbedürftig sind. Da Deutschland praktisch niemanden ausschafft, bleiben am Ende doch alle im Land, ob abgelehnt oder nicht.
Das Leben in Deutschland bietet ihnen vor allem Stillstand. «Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt auch für die Menschen, die wir hier aufnehmen», sagt die Odenthalerin Claudia Kruse. «Aber die Situationen, in die wir die Menschen im Moment schicken müssen, wie auch ein jahrelanger Aufenthalt in Turnhallen, das ist jenseits von Würde.»