Friday, September 1, 2023

FAZ: Die Angst in NRW vor einer noch schlimmeren Flüchtlingssituation wie 2015

FAZ: Die Angst in NRW vor einer noch schlimmeren Flüchtlingssituation wie 2015 Schon vor der Zusammenkunft von Bund und Ländern im Mai machten die Kommunen deutlich, dass sie die wachsende Zahl von Flüchtlingen so stark herausfordert wie schon lange nicht mehr. Allenthalben wurde gewarnt: Was sich da abzeichne, könne die Lage während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 in den Schatten stellen. Als Minimalkompromiss gab der Bund schließlich eine einmalige Finanzspritze in Höhe von einer Milliarde Euro. Die Kommunen empfinden das nicht als substanzielle Entlastung. Sie fordern ein Finanzierungssystem, das sich dynamisch den Flüchtlingszahlen anpasst, sowie ein dauerhaftes Konzept zur Unterbringung und Integration. Beim nächsten Flüchtlingsgipfel mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) im November wird es also wieder viel zu besprechen geben. Zumal die Städte zunehmend an ihre Grenzen stoßen, wie Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, der F.A.Z. berichtet. Es werde immer schwieriger, neue Gebäude und Flächen für Notunterkünfte zu finden. „Die kommunalen Aufnahmekapazitäten für Geflüchtete aus der Ukraine und anderen Ländern sind vielerorts erschöpft.“ Längst seien Flüchtlinge auch wieder in Messehallen und Zelten oder Turnhallen untergebracht. Städtetag fordert vom Land mehr Aufnahmeplätze „Wir müsse alle gemeinsam – Bund, Länder und Kommunen – dafür sorgen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Akzeptanz für die Aufnahme von Geflüchteten in allen Teilen der Gesellschaft erhalten bleibt“, mahnt Dedy. „Wir nehmen aber schon wahr, dass die Akzeptanz brüchiger wird.“ Der Hauptgeschäftsführer des Städtetags spielt auf Konflikte wie jenen in Mülheim an der Ruhr an. Am Rande einer Neubausiedlung hat das Land Nordrhein-Westfalen in einem zur „Zen­tralen Unterbringungseinrichtung“ (ZUE) umgewandelten Bürokomplex seit Juni gut 600 überwiegend junge Männer aus Syrien, der Türkei, aus Iran, Afghanistan und 27 weiteren Nationen untergebracht. Die Bürger der Siedlung erfuhren von der ZUE erst, als die Würfel schon gefallen waren. Die stark überschuldete Stadt Mülheim dagegen war froh, dass das Land die Kosten für das Flüchtlingsheim übernimmt. Anders als bisher werden in einer ZUE untergebrachte Flüchtlinge einer Kommune außerdem von Herbst an auf die eigene Aufnahmequote angerechnet. Weil die Flüchtlingszahlen schon seit Monaten steigen, fordert der Städtetag, dass die nordrhein-westfälische Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) die Zahl der Plätze in Landeseinrichtungen auf 70.000 erhöht. Aber sogar ihr selbst gestecktes Ziel von wenigstens 34.000 hat Paul nicht erreicht. Derzeit gibt es immer noch nur 30.000 Plätze, weil das Land Einheiten mit mindestens 300 Betten bevorzugt, zahlreiche kommunale Angebote ausgeschlagen hat oder weil es örtlich zu heftigem Widerstand kommt, so wie in Oeventrop. Bürgermeister rufen zur Richtungsentscheidung auf In dem Stadtteil von Arnsberg im Sauerland stoppten Bürger die ebenfalls über ihre Köpfe hinweg getroffene Entscheidung, ein ehemaliges Kloster zur ZUE für bis zu 450 Flüchtlinge umzuwandeln. Bei einer Bürgerversammlung Ende Juli geriet der ortsansässige Eigentümer der Immobilie so unter Druck, dass er den Mietvertrag mit dem Land wieder kündigte. Der Arnsberger Bürgermeister Ralf Paul Bittner (SPD) sagte kurz danach, er halte es für dringend notwendig, zu klären, „wie wir in unserer Stadt, in unserem Land mit der Erstaufnahme von geflüchteten Menschen zukünftig umgehen wollen und können“. Bittner plädierte für kleinere, „nicht inmitten etablierter Wohngebiete, sondern dezentral“ gelegene Heime. Damit habe Arnsberg gute Erfahrungen gemacht. Dasselbe berichtet Bettina Weist, die sozialdemokratische Bürgermeisterin von Gladbeck. In der Ruhrgebietskommune, die ihre Aufnahmequote schon zu mehr als 100 Prozent erfüllt, will das Land in den nächsten fünf Jahren bis zu 620 Flüchtlinge in einem zur ZUE umgebauten ehemaligen Vier-Sterne-Hotel unterbringen, das allerdings weitab vom Schuss in einem Naherholungsgebiet liegt. Die Stadt lehnt das wegen „zunehmender Sorgen in der Bevölkerung und bei den demokratischen Parteien“ sowie der Kritik der evangelischen Flüchtlingshilfe an der zentralen Unterbringung ab. Einstimmig appellierte der Rat an das Land, die Planungen einzustellen. „Eine Stadt und ihr Rat sagen Nein – trotzdem lässt die Landesregierung einfach weiterplanen, als wäre nichts geschehen. Von so einem Verhalten profitieren nur die Rechtspopulisten, es zerstört das Vertrauen in unsere Demokratie“, warnt Weist. SPD bezichtigt Landesregierung des schlechten Managements Jochen Ott, der sozialdemokratische Oppositionsführer im nordrhein-westfälischen Landtag, kritisiert gegenüber der F.A.Z., das schlechte Management der schwarz-grünen Landesregierung von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) führe dazu, „dass jetzt die Überforderung in den Kommunen noch größer geworden ist und der Widerstand in der Bevölkerung auch“. Man habe ein wertvolles Jahr verloren, weil Ministerin Paul nicht in der Lage sei, die Prozesse zu steuern. Sie selbst stellte vergangene Woche einen Sechs-Punkte-Plan zur Stärkung des Aufnahmesystems in Aussicht. Anwohner sollen früher eingebunden, deren Fragen und Sorgen berücksichtigt werden. Erstmals werde das Land auch eigene Haushaltsmittel einsetzen, um Flüchtlinge zur freiwilligen Rückkehr zu bewegen, bekräftigte Paul. Der Krefelder Oberbürgermeister Frank Meyer (SPD) kritisiert, ausgerechnet eine grüne Flüchtlingsministerin mache inhumane Politik. Pau zwinge die Kommunen, Menschen in Turnhallen und auf Feldbetten unterzubringen, sagt Meyer. Das führe zu großen gesellschaftlichen Konflikten. „Wenn wir Flüchtlinge in Turnhallen unterbringen, nehmen wir Sportvereinen und Schulen die Nutzung weg. Diejenigen, die mit am meisten unter der Corona-Pandemie gelitten haben, sind die Ersten, die erneut bestraft werden.“ Auch in Krefeld sei man kurz davor, wieder Turnhallen nutzen zu müssen. Dabei habe man das unbedingt vermeiden wollen. „Wir haben immer öfter die Situation, dass die Interessen schutzbedürftiger Flüchtlinge in Konkurrenz gesetzt werden zu Interessen der Bürgerinnen und Bürger meiner Stadt.“ Meyer fürchtet, dass die Akzeptanz der Flüchtlingspolitik leiden werde, wenn sich nicht rasch etwas ändere. „Das ist der beste Wahlkampf, den man für die AfD machen kann. Und nach dem nächsten Wahlabend sitzt das Führungspersonal der demokratischen Parteien dann wieder mit Krokodilstränen in den Talkshows“, sagt er. „Es gibt selbstverständlich keine Argumente, eine Partei zu wählen, die mit Faschisten durchsetzt ist – aber das entlässt doch niemanden aus der Pflicht, eine ordentliche Flüchtlingspolitik zu machen und Konflikte so gering wie möglich zu halten.“