Wednesday, June 21, 2023

„Wir sind hierzulande dabei, vieles zu verspielen“

Frankfurter Allgemeine Zeitung „Wir sind hierzulande dabei, vieles zu verspielen“ Artikel von Carsten Knop • Vor 4 Std. Herr Berg, nach sechs Jahren an der Spitze des Digitalverbandes Bitkom nehmen Sie nun Abschied und übergeben das Amt an Herrn Wintergerst. Die Digitalisierung in Deutschland ist aber immer noch ein starkes Aufregerthema. Berg: Ja, das ist es. Wir haben einiges erreicht, in der Branche, in der öffentlichen Wahrnehmung, in der Politik. Gerade bei dem Thema Bildung und bei Städten und Kommunen ist einiges passiert; der Digitalpakt Schule, der Smart School Wettbewerb und auch die Erfolge bei den Smart Citys zeigen in die richtige Richtung. So manches ist auch in anderen Bereichen spürbar verbessert worden. Die Funklöcher zum Beispiel sind gestopft, und die elektronische Patientenakte steht in den Startlöchern. Aber wir haben auch ein, zwei heftige Enttäuschungen erleben müssen. Zum Beispiel? Berg: Wenn man sich anschaut, wie krachend Deutschland etwa bei der Digitalisierung der Verwaltung seine Ziele verfehlt hat, dass wir uns hier international um die letzten Plätze schlagen, dann schreiben wir das nicht nur der Politik ins Stammbuch, wir stehen da auch als Verband im Soll. Dabei wissen Sie seit Langem, was zu tun ist, und mahnen es auch bei jeder passenden Gelegenheit an. Berg: Ja, sicher. Das machen wir. Deutschland muss endlich handeln. Wir wissen, wo die Schwachstellen sind, und wir wissen, wie sie abgestellt werden könnten – in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Aber suchen Sie sich angesichts des staatlichen Versagens etwa bei der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes hier nicht einen falschen Partner aus? Berg: Nun ja, das Onlinezugangsgesetz. Das war ein Gesetz, das festlegte, bis Ende 2022 ausnahmslos alle Dienste der öffentlichen Verwaltungen auch digital anzubieten. Und was war dann: Pustekuchen. Das ist für die Politik, für die Bundesregierung und, ja, auch für mich persönlich eine von zwei Enttäuschungen gewesen. Aber das Versagen lag nicht bei Ihnen? Berg: Definitiv nicht. Die öffentliche Verwaltung ist das ureigenste Betätigungsfeld der Politik. Dort gibt es aber einen Strickfehler im System. Die Verantwortung ist maximal verteilt, auf 16 Bundesländer und 11.000 Kommunen mit ihrer kommunalen Selbstverwaltung. Der Langsamste macht das Tempo. Dänemark hat inzwischen 20 Jahre Vorsprung. So wird das nichts. Wintergerst: Ich würde gern auf einen Punkt zurückkommen, der mir ganz wichtig scheint. Es gibt in diesem Spiel keine falschen Partner, wie Sie es formuliert haben. Nun ja, das Versagen ist auf einigen Gebieten geradezu atemberaubend. Wintergerst: Aber bei Weitem nicht auf allen. Nehmen Sie nur die Pandemie: Corona hat zwar unerbittlich gezeigt, wo die Schwachstellen sind. Andererseits wurde während dieser Zeit aber auch deutlich, wie schnell Verwaltung, Staat und Unternehmen reagieren können, wenn es um Innovation, Flexibilität und auch den Einsatz neuer Technologien geht. Eine Lehre für die Zukunft? Wintergerst: Ich denke schon: Wir müssen künftig mehr als bisher alle an einem Strang ziehen. Da gehören Politik, Verwaltung, Unternehmen, ja die gesamte Gesellschaft dazu. Und was war Ihre zweite Enttäuschung, Herr Berg? Berg: Das waren die Wirrungen rund um die DSGVO. Da will Deutschland bei ihrer Umsetzung wieder der Musterschüler in Europa sein und schießt völlig übers Ziel hinaus. Aber die Ursachen dafür liegen doch um einiges tiefer und auch nicht primär beim Bitkom. Berg: Wir nehmen uns da nicht aus der Verantwortung. Allerdings scheinen hierzulande schon ein paar wichtige Grundvoraussetzungen zu fehlen. Zum Beispiel? Berg: Zum Beispiel die Bereitschaft, sich über eine persönliche Kennziffer digital zu identifizieren. Eine solche eID hat unser komplettes europäisches Umfeld schon längst. In Deutschland gibt es sie faktisch auch, mit der Steuer-ID. Die dürfen wir aber bei uns nicht als eID verwenden, der Bundesdatenschutzbeauftragte hat’s verboten. Oder die fehlende Verknüpfung der öffentlichen Register. Zu was das führt, haben Millionen deutscher Immobilienbesitzer gerade erlebt. Bei der überfälligen Reform der Grundsteuer also . . . Berg: . . . genau. Das war eine Frechheit, was der Staat dem Bürger da abverlangt hat: Ihn alle Daten, die in den Registern der Verwaltungen ja vorhanden sind, zusammensuchen und aufbereiten zu lassen, um sie dann dem Staat wieder vorzulegen: ein Stück aus dem Tollhaus. Herr Wintergerst, was steht denn nun auf Ihrer Bitkom-Agenda für die kommenden Jahre? Wintergerst: Bislang sind es drei Themen. Erstens: die Sicherheit im Cyberraum. Schauen wir nur mal auf die Hackerangriffe, die damit verbundenen milliardenschweren Schäden. Das ist ein Topthema. Zweitens: die Förderung der digitalen Technologien. Das ist für unseren Verband ja naheliegend, und es ist für den Wohlstand dieses Landes wichtig, geradezu entscheidend. Und drittens? Wintergerst: Das folgt direkt aus dem eben Gesagten: die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Wir sind hierzulande dabei, vieles zu verspielen. Uns fehlt es nicht an Geld, uns fehlt es nicht an Ideen. Was hierzulande oft und vor allem fehlt, ist die Offenheit gegenüber Neuem und der unbedingte Wille, bei Innovationen ganz vorn mitzuspielen. Zum Beispiel? Wintergerst: Nehmen Sie KI-Systeme wie ChatGPT. Da behaupte ich mal: Das könnten wir auch. Was macht Sie da so zuversichtlich? Wintergerst: Ganz einfach: Wir haben die Mittel, wir haben die Leute, und wir haben das Wissen. Dann lassen Sie uns das doch mal durchgehen. Wintergerst: Deutschland hat nach Amerika, China und Japan das weltweit viertgrößte Budget für Technologie und Innovation. Deutschland hat eine einzigartige Forschungslandschaft mit Einrichtungen wie dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) – und die arbeiten auf allerhöchstem Niveau. Aber? Wintergerst: Aber was wir hierzulande nicht haben, ist die Offenheit in relevanten Teilen von Politik und Gesellschaft gegenüber solchen neuen Technologien. Da schwingt fast immer und überall sehr viel Skepsis mit. Kritische Distanz ist gut, ein Übermaß an Skepsis aber ist ein Bremsklotz. Wie meinen Sie das? Berg: Ich werde nervös, wenn ich sehe, was derzeit bei der Künstlichen Intelligenz passiert. Richtig, wir haben ein DFKI. Das Institut ist seit 35 Jahren etabliert, mit 900 Spezialisten bestens besetzt und finanziell gut ausgestattet. Und dann kommt da ein kleines Start-up wie Open AI und zeigt der Welt mit ChatGPT, wie man so was ganz groß aufzieht. Wintergerst: Und das ganze Projekt war nicht mal geheim. Es wurde vor unser aller Augen jahrelang daran gearbeitet . . . . . . unter anderem mit deutschen Forschern . . . Berg: . . . und Ergebnissen der hiesigen Forschung. Was zeigt uns das? Wintergerst: Das zeigt uns, wie gesagt: Das könnten wir auch. Wir müssen es nur wollen, auf die Schiene setzen und Tempo machen. Berg: Wir sind ein Land mit zwei Geschwindigkeiten. In einigen Feldern kommen wir keinen Millimeter von der Stelle. Und dann gibt es Bereiche, da sind wir geradezu rasant unterwegs. Sie sprechen hier von Teilen der Forschung und auch in der Wirtschaft. Berg: Genau. Schauen wir nur mal, was Konzerne wie Siemens und, ja, auch die Deutsche Telekom alles so auf den Weg gebracht haben. Schauen wir aber vor allem auf hiesige Start-ups wie DeepL , Aleph Alpha oder Celonis . Das ist Weltklasse, was da gemacht wird. Warum stehen die Amerikaner hier denn Schlange? Genau deshalb. Während Ihrer Amtszeit, Herr Berg, haben Sie ein Herz für die Start-up-Szene gezeigt. Aber reicht das auch? Berg: Ich sehe in den Start-ups einen wichtigen, wenn nicht gar entscheidenden Impulsgeber für unser Land. So einen Puls muss man dann allerdings auch mal richtig durchschlagen lassen. Und Sie sehen diesen Durchschlag nicht? Berg: Oft nicht genug. Warum? Berg: Start-ups brauchen vor allem vier Dinge: Kapital – das haben wir. Gute Köpfe – die haben wir auch. Daten – hier wird es schon ziemlich knifflig. Und schließlich Freiräume – und da muss ich sagen: Das Übermaß an Regulierung in Deutschland und Europa ist erdrückend. Es vertreibt viele sehr hoffnungsvolle Gründer und Start-ups. Wintergerst: Wenn das so weitergeht, wird das massive Wohlstandsverluste nach sich ziehen. Denn die anderen Nationen und Regionen drücken mächtig aufs Tempo. Amerika ist der Innovator; China war der Duplikator und ist jetzt ebenfalls globaler Innovator . . . . . . und Europa? Wintergerst: . . . Nun ja, Europa ist bislang vor allem der Regulator. Ganz ohne Regulierung geht es nicht, aber sehr oft kommt diese Rolle aus einer Abwehrhaltung heraus – und das müssen wir ändern. Regulierung in der jetzigen Form ist kein Erfolgsfaktor für die Zukunft. Herr Wintergerst, Sie haben als Chef von Giesecke + Devrient ja Erfahrungen, ein Traditionsunternehmen von der alten analogen in die neue digitale Welt zu führen. Wintergerst: Ja, da muss dann aber auch die Bereitschaft da sein. Ohne die geht gar nichts. Das heißt konkret? Wintergerst: Konkret heißt das: Man muss bereit sein, alte Errungenschaften, wenn nötig, infrage zu stellen. Zum Beispiel? Wintergerst: Wir sind bei G+D bereit gewesen, uns selbst zu kannibalisieren. Wir haben faktisch unser gut laufendes Geschäft mit SIM-Cards geopfert, um auf die eSIM-Card zu setzen. Die ist fest verbaut, setzt auf ein vollkommenes digitales Geschäftsmodell und ist heute in der Branche der Standard. Und wenn Sie am Bewährten festgehalten hätten . . . Wintergerst: . . . Dann hätten wir auf einer sinkenden Kurve gesessen und wären mit den damals herkömmlichen SIM-Cards hart aufgeschlagen. Denn in den Smartphones der Zukunft gibt es immer weniger SIM-Karten. Zudem birgt die neue digitale Lösung neue Anwendungsfelder, etwa in der Automobilindustrie oder im Internet der Dinge. In der Breite ist genau das nicht üblich. Berg: Nein, das ist es nicht. Wir brauchen mehr Mut, mehr Risikobereitschaft und mehr Hunger auf Innovation auch in den Chefetagen. Wenn ich als Unternehmer etwas möchte, also wenn der Chef oder die Chefin etwas wirklich will, dann kriegen sie das auch. Dann treiben sie das Thema so lange voran, bis das Ergebnis da ist, das sie sich vorgestellt haben. Da dreh ich mich nicht um und sage, da habe ich ja keine Kompetenz. Wenn ich die nicht habe, hole ich mir Leute dafür. So, wie es Open AI mit ChatGPT gemacht hat. Ich muss halt wissen, was ich will. Lassen Sie uns doch mal etwas anders an diese Sache herangehen: Wie alt ist der Bitkom jetzt? Berg: Im Oktober 1999 gegründet. Also knapp 24 Jahre alt. Gut. Mal von den jüngsten Entwicklungen bei der KI oder den eSIMs abgesehen, hätten wir das gleiche Gespräch mit vielen der bislang gestellten Fragen und vielen der bislang gegebenen Antworten so auch vor 20 Jahren führen können. Berg: Wie meinen Sie das? Wir reden von Innovationsschwäche, die ist nicht neu. Wir reden vom mentalen Mindset, von der behäbigen Verwaltung, von der Technikfeindlichkeit, von den Veränderungsphobien im Land. Das haben wir damals auch so gehabt. Geht eigentlich irgendwas richtig nach vorn? Wintergerst: Ja, durchaus. Aber wir sind, wie gesagt, das Land der zwei Geschwindigkeiten. Wir brauchen mehr Tempo, wir brauchen mehr Innovationen, und wir brauchen für Deutschland eine ambitionierte Agenda, einen Nordstern. Da gilt es dranzubleiben. Was sollen wir denn sonst tun: Den Kopf in den Sand stecken? Das ist keine Lösung! Dann lassen Sie uns mal nach oben blicken: Wann, glauben Sie, wird der Bundeskanzler mit einer klaren Digitalagenda gewählt? Berg: Frühestens in zehn Jahren. In zehn Jahren? Berg: Frühestens. Aber das ist zu spät. Wintergerst: Genau. Berg: Wenn wir so spendabel mit unserem Wohlstand umgehen wie derzeit, dann wird es eng für Land und Leute. Und dann wird der Leidensdruck so groß, dass man vielleicht wieder die entscheidenden Dinge ganz oben auf die Agenda setzt – und nicht links und rechts teure Geschenke raushaut; dass man nicht jede Neuerung einfach mal so wegreguliert; und dass man nicht vielerorts massiv Ängste schürt. Nennen Sie mal ein Beispiel. Wintergerst: Nehmen Sie etwa das Klima. Das ist – zu Recht – ein riesiges gesellschaftliches Thema. Was aber ruft es in der Öffentlichkeit vor allem hervor: Ängste vor den bevorstehenden Veränderungen. Junge Menschen gehen auf die Straße, anstatt die technischen Studiengänge zu stürmen und mit Innovationen gegen den Klimawandel zu kämpfen. Berg: Wir haben bei dem Beratungshaus Accenture eine sehr aufwendige Studie in Auftrag gegeben und haben nachgewiesen, dass sich allein durch beschleunigte Digitalisierung in Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft bis zu 41 Prozent der Klimaziele 2030 erreichen lassen. Und? Berg: Das ist schon mal eine Ansage: 41 Prozent allein durch Digitalisierung. Dann kam das Bundesumweltministerium und gab eine Gegenstudie in Auftrag. Und? Berg: Das Ziel war offenkundig nicht, aufzuzeigen, wie man aus den 41 Prozent 50 Prozent machen kann, sondern die 41 Prozent anzuzweifeln. Das Ganze zeigt, wie hierzulande mit neuen Technologien umgegangen wird. Dann kann man sich aber auch mal mit den Wählern auseinandersetzen – und das Thema Digitalisierung interessiert viele Leute einfach nicht. Müssten Verbände wie der Bitkom hier nicht aktiver sein? Wintergerst: Aufklärung und Bildung sind zwei unserer Hauptpunkte. Und die stehen bei Bitkom auch künftig ganz oben auf der Agenda. Nur: Ob wir die ganze Bundesrepublik erziehen sollten oder könnten – da habe ich so meine Zweifel. Aber Dialog und Diskussion sind immens wichtig. Wir als Wirtschaft müssen viel stärker mit der Gesellschaft ins Gespräch kommen, wie zum Beispiel letzten Freitag beim bundesweiten Digitaltag. Darauf will ich das Bitkom-Programm neben all dem, was in Wirtschaft, Technologie und Politik zu tun ist, stärker ausrichten. Schlussendlich muss Digitalisierung auch wahlkampffähig werden. Für unsere Zukunft ist die Gestaltung des digitalen Potentials jedenfalls mit entscheidend.