Thursday, December 1, 2022

Corona-Proteste: Wie Chinas Kommunistische Partei das Volk verlor

Frankfurter Allgemeine Zeitung Corona-Proteste: Wie Chinas Kommunistische Partei das Volk verlor Artikel von Hendrik Ankenbrand • Gestern um 21:15 | 60 Abgeschirmt: Polizeipatrouille in Schanghais Nobeladresse Wulumuqi Road. Sie ist nach der Hauptstadt der Provinz Xinjiang benannt. Die Wulumuqi Lu, die drei Kilometer lang durch Schanghai führt, ist eine der schönsten Straßen Chinas. Für die Staatsführung ist sie schwierig. In ihrem Norden arbeiten im Huashan-Krankenhaus die besten Ärzte des Landes. Zhang Wenhong etwa, einer der Anführer von Chinas frühem Kampf gegen die Pandemie. Wie viele Schanghaier hat der Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten allerdings ein loses Mundwerk. Mitte vergangenen Jahres geriet Zhang landesweit in die Kritik, weil er gesagt hatte, die Welt müsse lernen, mit dem Virus zu leben. Das war zwar wissenschaftlich richtig, widersprach aber der Null-Covid-Politik von Staatsführer Xi Jinping. Prompt wurden Plagiatsvorwürfe gegen den Schanghaier Doktor laut. In ihrer Mitte ist die Wulumuqi Lu gesäumt von noblen Apartmentblocks voller Expats, die für viel Geld mieten, und reicher Chinesen, die den Wohnraum ihr Eigen nennen. Als Schanghai im Frühjahr zwei Monate im Lockdown war, durchbrach die internationale Gemeinschaft des Nachts das verschlossene Tor und lieferte sich auf der Wulumuqi Lu für Stunden ein Stelldichein mit einer Heerschar Polizisten. Im Süden der Straße bewacht eine kleine Armee von Soldaten und Sicherheitsbeamten die Tür des amerikanischen Generalkonsulats vor Fluchtversuchen in Ungnade gefallener Kader ins Exil. Und ein wenig weiter die Straße hinunter, einmal rechts und nach zehn Minuten Fußmarsch ein zweites Mal, steht allerlei Wachpersonal vor der Gasse mit dem Haus des am Mittwoch verstorbenen früheren Präsidenten Jiang Zemin. Dass am Wochenende in der Wulumuqi Lu Tausende Menschen gegen Chinas Null-Covid-Politik demonstriert haben, hat nur zum Teil mit dem Straßennamen zu tun, der von der Hauptstadt der nordwestlichen Region Xinjiang entliehen ist. Dort waren zehn Menschen in einem Hochhausbrand umgekommen, weil die Feuerwehr die Lockdown-Hürden nicht schnell genug überwinden konnte. In Schanghai forderten die Protestierer nicht nur das Ende der Lockdowns, sondern gleich auch das der kommunistischen Diktatur. Deren heutiger Führer scheint mit seinen Ideen kaum anderswo im Land so weit von dem Leben der Menschen wie hier. Während Xi Jinping für Abschottung steht, hat Jiang das Land geöffnet. Weil sein Tod die Menschen abermals auf die Straße treiben könnte, steht seit Mittwoch nun noch mehr Polizei auf der Wulumuqi Lu. Gegenmodell zu Xi „Wir nannten ihn ‚Kröte‘“, sagt die 28 Jahre alte Yi, die in Wirklichkeit anders heißt, am Sonntag bei den Protesten dabei war und wie so viele junge Chinesen in den vergangenen Jahren Jiang als Kultfigur entdeckt hatte. Die Spleenigkeit, die Sprüche, die Lust am offenen Schlagabtausch – in alldem sehen viele Chinesen ein Gegenmodell zu Xi. Zwar konnte auch Jiang durchgreifen. Doch unter dem Reformer, der mit seinem breiten Lächeln im amerikanischen Fernsehen auf Englisch über Diktatur und Freiheit diskutierte, erblühte die Privatwirtschaft. Nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation stieg China zur ökonomischen Supermacht auf, an der kein westlicher Industriestaat mehr vorbeikam. Für Yi, die Journalistin werden will, droht all das unter der Herrschaft Xi Jinpings verloren zu gehen: die Neugier auf die Welt außerhalb der Landesgrenzen, der Wille, aus Fehlern zu lernen, und der Glaube, dass der morgige Tag ein besserer wird. Für Yi wird es seit Beginn der Pandemie stetig schlechter. Anfangs habe die Marketingagentur, für die sie neben dem Studium gearbeitet hatte, ihr noch 20 Prozent ihres Gehalts gezahlt, anstatt sie zu entlassen, als wegen der Lockdowns die Wirtschaft stillstand. Mittlerweile ist der Job ganz weg. Dass die Jugendarbeitslosigkeit vom Höchststand im Juli mit fast 20 Prozent um 2 Punkte gefallen sein soll, kann Yi kaum glauben. Auch für Jüngere gebe es keine Stellen. „Unsere Mieten zahlen die Eltern.“ Bald wieder militärisches Training Oft wurde behauptet, Chinas Partei habe nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 einen Vertrag mit dem Volk geschlossen: Ihr lasst uns die Macht, wir machen euch reich. Doch das sei nicht die Vorstellung von Xi Jinping, ist der Schanghaier Desmond Shum überzeugt, der als Unternehmer mit Chinas Machthabern um die Welt flog und heute im Exil in England lebt. Bei der Null-Covid-Politik des Staatschefs gehe es nicht um Covid, sondern um Xis Überzeugung, er müsse das Volk „disziplinieren“. Die Proteste dürften ihn darin noch bestärken, weshalb Studenten bald wieder ein Jahr militärisches Training vorgeschrieben werden könnte wie damals nach dem Tiananmen-Massaker, vielleicht auch den Schülern im Land. Die Frage ist, wann die Kommunistische Partei die Menschen in Schanghai verloren hat. Die Tennisspieler in dem eine kurze Fahrt von der Wulumuqi Lu entfernten Privatclub etwa haben schon früher nichts davon gehalten, dass Xi erfolgreiche Konzerne wie Alibaba, Tencent oder Ant Financial ins Fadenkreuz genommen hat, weil die Unternehmer sich nicht seiner Kontrolle unterwerfen wollten. Am Sonntagmittag sitzen die Sportler zusammen und planen, nach der Partie auf der Wulumuqi Lu zu protestieren. Seit die Wirtschaft durch die Dauerlockdowns am Boden liegt, seien ihre Arbeitsplätze in Banken und Fonds im Finanzviertel in Pudong in Gefahr: „Wir arbeiten wie die Tiere, um nicht entlassen zu werden.“ Die 26 Jahre alte Rachel sorgt sich weniger um ihr bescheidenes Gehalt, das sie als PR-Angestellte eines deutschen Unternehmens bezieht. Bis vor Kurzem fühlte sie sich in China äußerst wohl. Nach dem Studium in Australien war sie froh, wieder zu den Eltern nach Schanghai zu ziehen. Während der Pandemie nicht ins Ausland reisen zu dürfen warf sie nicht um: „Strände und Berge haben wir hier auch.“ An China hat sie geschätzt, dass sie sich den Kaffee 15 Etagen hoch ins Büro liefern lassen konnte; die Demokratiebewegung in Hongkong sah sie kritisch. Zensierte Bilder von der WM Erste Zweifel an der Redlichkeit der Regierenden kamen auf, als Rachel im Frühjahr zwei Monate lang mit ihrem Vater eingeschlossen in ihrer Wohnung saß, weil der eine Stunde vor Beginn des Lockdowns der Wohnanlage auf Besuch gewesen war. Die Mutter harrte die nächsten zweieinhalb Monate allein im elterlichen Zuhause aus. Die Eltern sind im Nachbarschaftskomitee aktiv, der untersten Gliederung der Partei. Die Tochter hat im Frühjahr selbst einen weißen Schutzanzug angezogen und bei den täglichen Massentests der Nachbarn geholfen. Rachel wollte, dass es vorangeht, damit der Vater seinen Verdienstausfall als Vertreter kompensieren kann. Ein halbes Jahr später sieht sie Tempo nur bei der Fußballweltmeisterschaft und dort auch nur auf dem Platz. Dass das chinesische Staatsfernsehen die Bilder der jubelnden maskenlosen Zuschauer in den Stadien zensiert, damit die Zuschauer in China nicht merken, dass es tatsächlich ein Leben mit dem Virus gibt, hat sich bei Rachels Freunden längst herumgesprochen. „Und hier reden wir über den nächsten Lockdown.“ Yi sagt, ihren echten Namen in der Zeitung zu lesen mache ihr nichts aus. Den Einwand, dass dies zu ihrem eigenen Schutz nicht passieren werde, registriert sie schon gar nicht mehr. „Ich bin eine stolze Chinesin“, sagt sie und fügt hinzu: „Und zum Stolz gehört, gegen diese Regierung zu sein.“