Saturday, December 31, 2022

Der «Spiegel» muss seine Berichterstattung über illegale Migranten zurückziehen

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Der «Spiegel» muss seine Berichterstattung über illegale Migranten zurückziehen Artikel von Jonas Hermann • Vor 6 Std. Der «Spiegel» wird in Deutschland reflexhaft als Nachrichtenmagazin bezeichnet. «Wie das Nachrichtenmagazin der ‹Spiegel› berichtet . . .», heisst es oft. Der Redaktion kann das recht sein. Nachrichtenmagazin, das klingt wichtig und vor allem: seriös. Journalistisch betrachtet ist die Bezeichnung irreführend. Es gibt in Deutschland kein grosses, gedrucktes Nachrichtenmagazin. Schon deshalb nicht, weil ein Magazin viel mehr bieten muss als Nachrichten. Den Markenkern bilden Reportagen, grosse Interviews oder investigative Recherchen. Damit sind Magazine das Gegenstück zum schnelllebigen Nachrichtengeschäft. Es gibt einen zweiten Grund, warum die Einordnung des «Spiegels» als Nachrichtenmagazin in die Irre führt. Der Hochstapler Claas Relotius konnte dort Dutzende von Artikeln veröffentlichen, die in wesentlichen Teilen erfunden waren. Die Redaktion stellte die Sache als isolierten Einzelfall dar und gelobte Besserung. Dieses Jahr kamen allerdings wieder Zweifel am Wahrheitsgehalt von zwei aufwendigen Recherchen des Magazins auf. In einem Fall geht es um ein syrisches Mädchen namens Maria, das im Sommer angeblich an der EU-Aussengrenze verstorben sein soll. Laut Darstellung des «Spiegels» tragen die griechischen Behörden Schuld an dem Todesfall, weil sie die EU-Grenze kontrollieren und dabei robust vorgehen. Schnell kam in Griechenland die Frage auf, ob es das tote Mädchen wirklich gab. Nachdem sich die Zweifel verdichtet hatten, nahm der «Spiegel» im November alle vier Artikel darüber von seiner Website und kündigte eine Untersuchung an. Überprüfte Texte gehen nie wieder online Deren Ergebnis publizierte das Magazin am Vorabend des Silvestertags. Ein günstiger Zeitpunkt, wenn man will, dass eine Nachricht keine grosse Aufmerksamkeit erhält. Das Ergebnis der internen Recherche hat es in sich: Die aus dem Netz genommenen Artikel zum Tod des Mädchens werden nie wieder online gehen. Eine Überarbeitung ergebe keinen Sinn. «Zu vieles darin müsste korrigiert werden», schreibt das Magazin in seinem Abschlussbericht zum Fall Maria. Hat es Maria nun gegeben? Ist sie tatsächlich an der türkisch-griechischen Grenze durch den Stich eines Skorpions gestorben? Diese Frage konnte auch die aufwendige Nachrecherche des «Spiegels» nicht klären. Laut dem Magazin deutet aber manches darauf hin, «dass einige der Geflüchteten den Todesfall in ihrer Verzweiflung erfunden haben könnten». Als gesichert gilt, dass im Sommer eine Gruppe von Migranten bei grosser Hitze tagelang im türkisch-griechischen Grenzgebiet umherirrte. Laut dem «Spiegel» lebten sie teilweise auf Inseln im Grenzfluss Evros und schickten von dort via Mobiltelefon verzweifelte Nachrichten an Asylaktivisten und den «Spiegel». Da die Region militärisches Sperrgebiet ist, konnte sich die Redaktion nicht selbst vom Wahrheitsgehalt der Schilderungen überzeugen. Wie wurden Mutmassungen zur Tatsache? Klar scheint mittlerweile, dass kein Reporter oder Aktivist das tote Mädchen gesehen hat. Ihre Familie kann nicht sagen, wo es begraben sein soll, und hat keine Fotos, um die Existenz des Kindes zu belegen. Nach Angaben der Eltern hatte Maria eine Zwillingsschwester, insgesamt war von fünf Kindern die Rede. Auf mehreren Namenslisten der fünfzigköpfigen Migrantengruppe tauchen laut «Spiegel» aber nur vier Kinder der Familie auf. Wie machte der «Spiegel» aus dem Tod eine Tatsache? Eine Frau aus der Flüchtlingsgruppe habe aufgelöst via Sprachnachricht den Tod des Mädchens geschildert und ein Bild geschickt. Darauf sei ein Mädchen mit geschlossenen Augen und einer «hämatomartigen Verfärbung am linken Schenkel» zu sehen gewesen. Giorgos Christides, ein griechischer Mitarbeiter des «Spiegels», schickte dann offenbar einen englischsprachigen Text an die Redaktion. Darin sei der Tod des Mädchens nicht eindeutig als Tatsache beschrieben gewesen. Dies sei erst bei der Übersetzung geschehen, die ein leitender Redaktor des Auslandressorts übernommen habe, heisst es im Untersuchungsbericht des «Spiegels». Aus Zeitgründen habe man davon abgesehen, den Text von der «Dokumentation» prüfen zu lassen. So nennt sich beim «Spiegel» eine Abteilung, die Artikel auf inhaltliche Richtigkeit kontrolliert. Die «Spiegel»-Dokumentation genoss lange einen guten Ruf. Im Fall Relotius hatte sie allerdings komplett versagt. Zahlreiche Medien griffen die Nachricht von dem angeblich toten Mädchen auf. Die politische Bewertung im «Spiegel» klang so: «Griechenland und die griechischen Behörden sehen lieber einem fünfjährigen Mädchen beim Sterben zu, als zwei, drei Dutzend Geflüchtete ins Land zu lassen und aufzunehmen.» Diesen Satz sagte einer der Journalisten, der an den Artikeln über Maria mitgewirkt hatte, in einem Podcast des Magazins. Es ist dem «Spiegel» zugutezuhalten, dass er solche Aussagen in seinen Abschlussbericht einbezogen hat. Comedian wehrt sich juristisch gegen Artikel Neben dem Fall Maria geriet der «Spiegel» dieses Jahr auch mit einer anderen Recherche in Schwierigkeiten. Ende 2021 hatten mehrere Redaktorinnen des Magazins einen Text über Luke Mockridge veröffentlicht, den derzeit erfolgreichsten deutschen Comedian. Die Autorinnen zitieren darin völlig anonymisierte Frauen, die Mockridge vorwerfen, sie gegen ihren Willen berührt zu haben. Kronzeugin ist eine öffentlich bekannte Ex-Freundin des Comedians, die ihm versuchte Vergewaltigung zur Last legt. Der Artikel erzeugt eine Aura von Faktizität und stellt den Comedian letztlich als Sexualstraftäter dar. Dass die Staatsanwaltschaft Köln ein entsprechendes Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt hat, schien die Redaktion nicht sonderlich zu interessieren. Die Gerichte, vor denen Mockridge dann klagte, allerdings schon. Im Gegensatz zur Maria-Berichterstattung ist der Text noch online, nach mehreren Gerichtsurteilen gegen den «Spiegel» allerdings in gekürzter Fassung. Parallelen zum Fall Relotius Wie beim Fall Maria spricht auch hier vieles dafür, dass die Redaktion die Sichtweise von Aktivistinnen übernahm und sich auf Aussagen stützte, die sich nicht unabhängig prüfen lassen. Mockridge stürzte die Berichterstattung in eine schwere persönliche Krise, da der «Spiegel»-Artikel eine gewaltige Kampagne gegen ihn in den sozialen Netzwerken nach sich zog. Nun verklagt er den «Spiegel» zivilrechtlich auf Schadenersatz. Was haben diese Beispiele mit dem Fall Relotius zu tun? Im Gegensatz zu Relotius haben die beteiligten «Spiegel»-Journalisten wahrscheinlich nichts erfunden oder ihr Publikum bewusst getäuscht. Sie sind bei ihren Recherchen einfach mehrfach falsch abgebogen. Die Gemeinsamkeit zu Relotius ist dennoch offenkundig: Sowohl der Fall Maria als auch die Causa Mockridge passen in ein bestimmtes Weltbild, in dem Grenzschutz Teufelszeug ist und Männer grundsätzlich Täter sind. Relotius’ Texte fügten sich hier ein – zum Beispiel seine in wesentlichen Teilen erfundene Reportage über Grenzschützer in den USA oder ein Text über ein Flüchtlingsmädchen in Syrien, das angeblich nachts von Angela Merkel träumt. Ob es dieses Kind gibt, ist ebenso ungewiss wie die Existenz des syrischen Mädchens Maria.