Wednesday, September 28, 2022

Rezession: "Deutschland droht eine Deindustrialisierung"

ZEIT ONLINE Rezession: "Deutschland droht eine Deindustrialisierung" Zacharias Zacharakis - Gestern um 13:30 Der US-Ökonom Barry Eichengreen rechnet mit einer schweren Wirtschaftskrise im kommenden Jahr – vor allem in Deutschland. Er sieht nur eine Lösung. Ein Industriegebiet im nordrhein-westfälischen Hagen Barry Eichengreen ist Professor für Wirtschafts- und Politikwissenschaften an der University of California in Berkeley, wo er seit 1987 lehrt. In den Neunzigerjahren war er leitender politischer Berater des Internationalen Währungsfonds in Washington, D. C. ZEIT ONLINE: Herr Eichengreen, wir steuern auf einen schwierigen Winter zu – mit zehn Prozent Inflation in Deutschland und einer womöglich schweren Wirtschaftskrise. Gibt es überhaupt noch einen Grund optimistisch zu sein? Barry Eichengreen: Ich sehe relativ wenig Anlass für Optimismus. Es wird nicht nur kurzfristig schwierig werden. Deutschland wird noch länger ein Problem haben aufgrund der hohen Energieabhängigkeit der deutschen Industrie, aber auch wegen der Bedeutung der Autoindustrie und des Verbrennungsmotors und wegen der historischen Bedeutung des Exports nach China. Es wird dauern, bis hier die nötigen Anpassungen vollzogen sind. Das wird das deutsche Wirtschaftswachstum beeinträchtigen, selbst wenn der Winter mild und die Energiekrise nicht so schwerwiegend sein wird. ZEIT ONLINE: Wie schlimm wird es denn? Die Deutsche Bank hat kürzlich vorausgesagt, dass die deutsche Wirtschaft 2023 um mehr als zwei Prozent einbricht. Eichengreen: Die Zahlen sind wohl realistisch. Aber es ist schwer, hier eine genaue Prognose zu treffen, weil vieles ungewiss ist. Es wäre ja denkbar, dass Russland nächstes Jahr die Gaslieferungen zumindest teilweise wieder aufnimmt, wenn sich die politische Lage verändert. Die Situation in Europa ist aber auch sehr stark abhängig davon, was in der übrigen Welt geschieht. Wie stark zum Beispiel der Abschwung in China wird. Für Deutschland als Exportnation ist das entscheidend. ZEIT ONLINE: In Deutschland wird gerade viel darüber diskutiert, ob der Wirtschaftskrieg gegen Russland uns viel stärker trifft als Russland selbst. Was meinen Sie? Eichengreen: Die Sanktionen treffen Russland viel stärker als Europa. Die Auswirkungen des Krieges, der allgemeinen geopolitischen Situation und der Lage auf dem Energiemarkt sind für Russland viel negativer als für Europa. Russland erlebt schon im laufenden Jahr eine heftige Rezession. Die Wirtschaft ist um mehr als neun Prozent geschrumpft, weil sie vor allem auf Energieexporten basiert, und die gehen stark zurück. Im kommenden Jahr wird es nicht besser, eher noch schlimmer. Die Wirtschaft in Europa und in den USA dagegen ist viel stärker diversifiziert. Westeuropa importiert jetzt Erdgas aus Nordamerika und dem Nahen Osten. Russland aber hat große Schwierigkeiten, andere Exportmärkte für sein Gas zu erschließen. Höchstens ein wenig Gas aus Sibirien kann nach China gehen. Es ist aber nicht klar, wohin der Rest fließen soll. ZEIT ONLINE: Im Moment sieht es nicht danach aus, dass Europa eine rasche Lösung für die Energiekrise findet. Die Preise werden so schnell nicht wieder sinken. Eichengreen: Nein, deshalb würde jeder Wirtschaftswissenschaftler zustimmen, wenn man sagt: Höhere Energiepreise sind zunächst notwendig, um mehr zu sparen. Die Nachfrage muss insgesamt sinken. Gleichzeitig müssen aber jene Haushalte entschädigt werden, die am meisten darunter leiden, also jene mit geringem Einkommen. ZEIT ONLINE: Das passiert teilweise schon und soll noch ausgeweitet werden. Aber die Industrie in Deutschland ist auch stark von hohen Preisen betroffen. Können die Unternehmen das durchhalten? Eichengreen: Deutschland droht eine Deindustrialisierung. Vor allem die chemische Industrie, die viel Energie verbraucht, wird eher dauerhaft als vorübergehend betroffen sein. Und darauf gibt es nur eine Antwort: Innovation und neue Technologien. Und in diesem Fall sind das erneuerbare Energien – Wasserstoff, Windkraft, Solarenergie. Deutschland hat hier schon den richtigen Weg eingeschlagen, jetzt muss es ihn entschieden fortsetzen. Der Anreiz für die Unternehmen, die Entwicklung hier voranzutreiben, ist derzeit besonders groß. Es gibt also Hoffnung, zumindest mittelfristig. ZEIT ONLINE: Ist es in dieser angespannten Lage richtig, dass die Zentralbanken drastisch die Zinsen erhöhen? Die US-Notenbank Fed legt gerade ein hohes Tempo vor. Eichengreen: Die Fed ergreift jetzt die notwendigen Maßnahmen. Sie ist sogar ein bisschen zu spät dran, weil sie zunächst nicht erkannt hat, wie groß das Inflationsproblem in Wirklichkeit ist. Fairerweise muss man sagen: Die meisten von uns Ökonomen haben das auch zu spät erkannt, also dass wir es plötzlich nicht mehr mit einer chronisch zu niedrigen, sondern mit einer zu hohen Inflationsrate zu tun haben. Ich gehe deshalb davon aus, dass der Leitzins auf vier bis fünf Prozent steigen wird. ZEIT ONLINE: Die hohe Inflation in Europa ergibt sich vor allem aus den hohen Energiepreisen. Woher kommt sie in den Vereinigten Staaten, die nicht so sehr auf russisches Gas und Öl angewiesen sind? Eichengreen: Es stimmt, dass die Energie in den USA nicht so teuer ist wie in Europa. Aber die Veränderung der Energiepreise ist trotzdem sehr spürbar. Bis vor Kurzem sind die Benzinpreise an den Zapfsäulen ziemlich stark gestiegen. Jetzt fallen sie wieder etwas. Aber auch die höheren Heizkosten im Winter sind ein Problem. Die höhere Inflation war in den USA außerdem schon da, bevor die Energiekrise eingesetzt hat. Es gab genau wie in Europa die Probleme in den Lieferketten. Es waren zu wenige Güter verfügbar, gleichzeitig stieg die Nachfrage stark an, also stiegen auch die Preise. Hinzu kam ein großes Konjunkturpaket der Regierung von Joe Biden im März 2021, das die Nachfrage stark angeregt hat. Stärker, als Angebot vorhanden war. ZEIT ONLINE: Auch die USA steuern auf einen wirtschaftlichen Abschwung zu, wohl nicht so schlimm wie Europa, aber es wird eine deutliche Abkühlung geben. In einer solchen Lage will die Fed die Zinsen auf vier bis fünf Prozent anheben. Das dürfte den Abschwung doch verstärken. Ist das nicht widersprüchlich? Eichengreen: Ja, es gibt diesen Widerspruch. Es wird wohl schmerzhaft werden, die Zinsen zu erhöhen, wenn sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt und die Gefahr besteht, dass es zu einer Rezession kommt. Aber wenn die Fed die Zinssätze jetzt nicht anhebt, wird sie es später noch stärker tun müssen. Die Probleme würden sich verschärfen, wenn die Zentralbank dies hinauszögert. ZEIT ONLINE: In Europa ist dieses Dilemma noch größer, weil die Krise schwerer werden dürfte. Wie stark sollte die EZB jetzt eingreifen? Eichengreen: Ich mache mir ernsthaft Sorgen, dass die EZB zu langsam reagiert, weil sie lange davon ausging, der rapide Anstieg der Energiekosten sei nur vorübergehend. Er ist aber nicht vorübergehend und die Menschen in Europa haben dies inzwischen auch verstanden. Das ist entscheidend für ihre künftigen Erwartungen. ZEIT ONLINE: Das müssen Sie genauer erklären. Warum ist es so wichtig, was die Menschen über die Inflation denken? Eichengreen: Wenn in der Bevölkerung die Erwartung vorherrscht, dass sich die Inflation lange in die Zukunft fortsetzt, dann passiert das in der Regel auch. Unternehmen heben ihre Preise an, die Beschäftigten verlangen höhere Bezahlung. Die Inflation füttert sich also selbst. Unterbrechen kann man diesen Kreislauf nur, indem die Zentralbank den Leitzins anhebt und sich dies negativ auf die Wirtschaft auswirkt. Die privaten Haushalte und die Unternehmen nehmen das auch wahr. Es ist das Signal, sich zurückzuhalten. Die Preise nicht weiter anzuheben, nicht mehr Gehalt zu verlangen. Die Inflation verliert folglich an Schwung. Positiv ist in Europa, dass die langfristige Inflationserwartung der Leute bislang gering ist. Also man geht davon aus, dass sich die Lage in fünf Jahren normalisiert. Die EZB muss jetzt handeln und den Menschen signalisieren, dass diese Erwartungen auch eintreffen wird. ZEIT ONLINE: Ist es notwendig, dass die EZB mit dem zügigen Tempo der Zinserhöhungen mithält, das die US-Notenbank an den Tag legt? Eichengreen: Wichtig ist, dass die Zentralbank vor allem das eigene Währungsgebiet im Blick behält. Ich würde die Politik der Fed nicht unbedingt als maßgeblich für die EZB betrachten. Maßgeblich sind die neun Prozent Inflation, die im Euroraum vorherrschen. Angesichts dieser hohen Rate ist es sehr bedenklich, dass die Europäische Zentralbank eher langsam die Zinsen anhebt. Nicht wegen der Fed.