Thursday, September 29, 2022

Warum Estland immer mehr ukrainische Geflüchtete zurück nach Russland schickt

DER SPIEGEL Warum Estland immer mehr ukrainische Geflüchtete zurück nach Russland schickt Christina Hebel - Gestern um 12:52 | Sie fliehen aus dem Kriegsgebiet über Russland in Richtung EU: Doch Estland weist immer mehr Ukrainer an der Grenze ab, wie SPIEGEL-Recherchen zeigen. Menschenrechtsaktivisten sprechen von Grundrechtsverletzungen. Warum Estland immer mehr ukrainische Geflüchtete zurück nach Russland schickt Als Wjatscheslaw mit seiner Frau Irina zur russisch-estnischen Grenze aufbricht, weiß er, dass er Fragen beantworten müssen wird. Was er nicht erwartet: dass er als Ukrainer aus Mariupol zurück nach Russland geschickt werden könnte. Es ist der Abend des 7. September, als das Paar mit seiner Katze die Brücke am Grenzfluss Narva überquert. Die beiden zeigen den estnischen Beamten ihre ukrainischen Pässe. Dazu Kopien der russischen Migrationskarten, die sie bei ihrer Flucht nach Russland wie jeder Einreisende erhalten hatten. Die Esten hätten sie lange befragt und warten lassen, berichtet der 28-Jährige hinterher am Telefon dem SPIEGEL. Ein Beamter habe wissen wollen, warum sie Mariupol erst Mitte August verlassen hätten. Warum sie erst jetzt von Russland in die EU wollten. Wjatscheslaw sagt, nach den wochenlangen Gefechten und all der Unsicherheit hätten sie es nicht früher geschafft. Dann in Russland hätten sie Geld verdienen müssen, um die Flucht gen Westen fortsetzen zu können. Das ukrainische Paar wartet insgesamt mehr als zehn Stunden an der Grenze, erzählt es. Spät in der Nacht erhalten sie ein Stück Papier. Darauf steht: Verweigerung der Einreise. Als Gründe sind auf der Rückseite zwei Punkte markiert. Erstens: ungültige Papiere. Zweitens: keine Belege für einen Aufenthalt im Kriegsgebiet. Wjatscheslaw und Irina sind nicht die einzigen Ukrainerinnen und Ukrainer, die an der estnischen Grenze zurück nach Russland geschickt wurden, dem SPIEGEL liegen inzwischen etliche entsprechende Dokumente vor. Seit Wochen kursieren bereits Gerüchte in den sozialen Netzwerken. Auf Anfrage teilen die Behörden mit, bis 18. September tatsächlich insgesamt 867 Ukrainern die Einreise verwehrt zu haben. Tendenz klar steigend. Der allergrößte Teil der Zurückweisungen erfolgte am Grenzübergang in Narva. Für jede Zurückweisung gebe es gute Gründe, versichern die Esten. Doch die Umstände lassen das höchst fraglich erscheinen. Die baltischen Staaten verfolgen seit Beginn des Ukrainekriegs eine rigide Linie, Estland sieht sich dabei oft als Vorreiter. Kaum ein anderes EU-Land lieferte anfangs so fleißig Rüstungsgüter nach Kiew, niemand hat im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Ukrainer aufgenommen. Gegen Russland verfolgt das Land einen knallharten Kurs. Erst in der vergangenen Woche trat ein gemeinsam mit Polen angekündigter Einreisestopp für Russen in Kraft. Seit Längerem wird die estnische Premierministerin Kaja Kallas auch als künftige Nato-Generalsekretärin gehandelt. »Jeder Bewohner ist für das Handeln seines Staates verantwortlich, russische Bürger machen da keine Ausnahme«, erklärte sie in der vergangenen Woche. »Deshalb gewähren wir russischen Männern kein Asyl, die aus ihrem Land fliehen. Sie sollten sich lieber gegen den Krieg stellen.« Mehrere EU-Staaten teilen diese Haltung, obwohl sie mit dem Grundrecht auf individuelle Prüfung eines Asylantrages kaum zu vereinbaren ist. Es ist ein Kurs, der in den kommenden Wochen noch für viele Diskussionen sorgen dürfte. In Estland abgewiesen, in Lettland und Finnland reingelassen Doch mit der Zurückweisung von Ukrainern, die über Russland nach Europa fliehen wollen, geht Estland noch einen Schritt weiter. Schutz bekommt nur, wer aus dem Kriegsgebiet kommt. Doch selbst diese grundlegende Vereinbarung scheint oft nicht eingehalten worden zu sein. Das Vorgehen der Behörden stellt nicht nur die Solidarität infrage. Menschenrechtsaktivisten sprechen von Willkür und Grundrechtsverletzungen an der EU-Außengrenze. Die Esten verteidigen die Zurückweisungen damit, dass sie vor allem Ukrainer träfen, die bereits vor dem Krieg im Land des Aggressors gelebt hätten. Doch Flüchtlingshelfer auf beiden Seiten der Grenze bestreiten das. Erzbischof Grigorij von der unabhängigen apostolisch-orthodoxen Kirche in Sankt Petersburg spricht von mehr als hundert Fällen – allesamt Kriegsflüchtlinge. In keinem einzigen Fall hätten die Betroffenen zuvor in Russland gelebt, sagt er. Der Geistliche begann nach Kriegsbeginn mit russischen Freiwilligen Hilfe und Fluchtrouten für ukrainische Geflüchtete gen Westen zu organisieren – trotz erheblicher Risiken. Ein weiteres Problem, so heißt es aus Tallinn, seien häufig fehlende biometrische Daten. Manche Ukrainer hätten bei ihrer Ankunft aus Russland außerdem schlicht nicht genügend Belege für eine Flucht aus dem Kriegsgebiet. Bei anderen seien die Angaben zu unklar oder Dokumente nicht ausreichend. Auch bei seiner Frau und ihm hätten die Esten Details in Zweifel gezogen, sagt Wjatscheslaw. Das Datum des russischen Einreisestempels von Mitte August passe nicht zu einem ein Tag älteren russischen Kassenzettel in seiner Hosentasche, so der Vorwurf. Zudem sei der Stempel nicht richtig lesbar. Wjatscheslaw sagt, er habe versucht zu erklären, welches Chaos im Grenzgebiet geherrscht habe. Angesichts der langen Wartezeiten habe ein Mitarbeiter des russischen Grenzschutzes schließlich einfach den Stempel vordatiert. Estnische wie russische Flüchtlingshelfer, die Ukrainer auf ihrem Weg aus dem Kriegsgebiet unterstützen, beschreiben den Fall des Paares aus Mariupol als typisch. Bestärkt wird ihr Misstrauen gegenüber Estland dadurch, dass die abgewiesenen Ukrainer oft kurz darauf problemlos nach Lettland oder Finnland einreisen konnten. So auch Wjatscheslaw und seine Partnerin. Die Zahl der eigenen Zurückweisungen sei so gering, dass man sie nicht wirklich erfasse, heißt es beim finnischen Grenzschutz, der auch Ukrainern Einlass gewährt, die zuvor in Russland gelebt haben und nun aus naheliegenden Gründen Zuflucht suchen. »Es ist schon auffällig, dass keiner, der an der estnischen Grenze ein Einreiseverbot erhielt und von uns bei seiner Flucht betreut wurde, in Finnland abgewiesen wurde«, sagt der Priester Grigorij. Auch das Fehlen biometrischer Daten sollte kein Hindernis für eine Einreise sein. Nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat die Europäische Union zum ersten Mal die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie in Kraft gesetzt. Ukrainerinnen können sich damit ohne kompliziertes Asylverfahren in der gesamten EU niederlassen, bekommen Sozialhilfe und das Recht zu arbeiten. Außer einem Pass und einem Nachweis, nach Kriegsbeginn im Land gewesen zu sein, sind keine Dokumente nötig. Erst dadurch konnten Zehntausende Ukrainer kurzfristig nach Estland reisen. Weiterhin nimmt das Land viele ukrainische Flüchtlinge auf, doch an der Grenze zu Russland sind die Esten knallhart. In vielen Fällen, sagt die estnische Anwältin Uljana Ponomarjova, sei verschwiegen worden, dass es unabhängig von der EU-Richtlinie ein grundsätzliches Recht auf ein rechtsstaatliches Asylverfahren gibt. Menschen, die aus einem Land im Krieg stammten, seien so teilweise wie ahnungslose Touristen behandelt und kurz darauf abgewiesen worden. Offenkundig seien sie den Behörden suspekt. Sie unterstellt deshalb Vorsatz und politischen Willen. Dass sie grundsätzlich das Recht auf einen Asylantrag hätten, sei vielen Ukrainern unklar, so Ponomarjova. Estland: Alle Zurückweisungen rechtmäßig Die russische Flüchtlingshelferin Nina Pirozinsky aus Sankt Petersburg hat mithilfe anderer Freiwilliger inzwischen mehr als 50 Fälle dokumentiert und an das Uno-Flüchtlingskommissariat UNHCR weitergeleitet. Die Ablehnungen seien dabei vage und diffus. »In allen Einreiseverbotsdokumenten, die ich gesehen habe, gibt es keine genauen Angaben«, sagt Pirozinsky, die bittet, ihren wirklichen Namen aus Sicherheitsgründen nicht zu veröffentlichen. Für die Ukrainer sei die unsichere Lage an der Grenze kaum auszuhalten. »Sie verstehen nicht, warum man sie nicht reinlässt. Das ist enormer Stress für Menschen, die ohnehin traumatisiert sind.« Auf Nachfrage teilte das UNHCR mit, inzwischen mit den estnischen Behörden im Austausch zu stehen. Man sei sich der Lage bewusst und bestehe dabei auf einer »konsequenten Anwendung der Massenzustrom-Richtlinie«. Lauri Läänemets, der erst seit Juli amtierende sozialdemokratische Innenminister, kündigte vor Kurzem zunächst an, die Vorfälle noch einmal genauer prüfen zu wollen. Bald darauf ruderte sein Ministerium jedoch zurück. Man sei mittlerweile sicher, dass alle Zurückweisungen rechtmäßig waren, so ein hochrangiger Vertreter des Ministeriums. Eine Analyse der Situation sei deshalb nicht notwendig. Manche Entscheidungen wirken jedoch schlicht willkürlich. Als Wjatscheslaw und seine Frau Irina zum zweiten Mal versuchten, die Grenze zu überqueren, seien sie wieder stundenlang befragt worden, erinnert er sich. Danach habe man sie plötzlich passieren lassen wollen – sofern sie die vier Monate alte Katze zurückließen. »Da haben wir abgesagt.« »Manche, die in Narva abgewiesen werden, kommen im zweiten Versuch durch«, bestätigt Eero Janson, Präsident des estnischen Flüchtlingsrats. »Es scheint sehr unterschiedliche Auslegungen derselben Regeln zu geben.« Offiziell beharrt die estnische Regierung darauf, nichts an ihrer Aufnahmepolitik geändert zu haben. Tatsächlich aber war die härtere Gangart nicht unangekündigt. Schon im Juni hatte Premierministerin Kaja Kallas erklärt: »Es wird viel unternommen, um diese Leute zu überprüfen, bevor sie aufgenommen werden. Es wird geprüft, wer sie sind, ob sie aus der Ukraine kommen, wohin sie als Nächstes wollen. Vor allem bei Männern.« Grundsätzlich stelle sich ja die Frage, ob sie nicht lieber kämpfen sollten, so Kallas weiter. Diese Haltung bestimmt drei Monate später offensichtlich auch den Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten, besonders womöglich, wenn sie zunehmend aus der östlichen Ukraine stammen und inzwischen mehrheitlich männlich sind. Bei den Finnen hätten solche Gedanken keine Rolle gespielt, sagt Wjatscheslaw. Etwa fünf Minuten hätten sie Fragen beantworten müssen. Danach seien Gepäck und Papiere kontrolliert worden. »Dann konnten wir passieren – mit unserer Katze aus Mariupol«, sagt Wjatscheslaw. Er nennt die Erfahrungen an der estnischen Grenze »bitter«. In Narva hätten bereits Bekannte gewartet, sie hatten eine Unterkunft und Arbeit in einer Fabrik. In Finnland müssen sie nun alles von Neuem organisieren.