Tuesday, March 29, 2022
Ungarn: "Es herrscht kalter Bürgerkrieg"
DW
Ungarn: "Es herrscht kalter Bürgerkrieg"
Keno Verseck - Gestern um 13:36
Vor der Parlamentswahl in Ungarn spricht der Schriftsteller György Dalos über das vergiftete öffentliche Klima im Land und über die Folgen der gesellschaftlichen Spaltung auch für das Regierungslager um Premier Orban.
Deutsche Welle: Herr Dalos, Ungarn steht kurz vor der Parlamentswahl. Die Gegensätze zwischen Regierungs- und Oppositionslager scheinen unüberbrückbar. Die Polarisierung im Land ist extrem stark. Wie empfinden Sie das?
György Dalos: In Ungarn herrscht eine völlig neurotisierte Atmosphäre. Es herrscht ein kalter Bürgerkrieg, er ist die offizielle Doktrin des Orban-Systems.
Mit dem Begriff "Kalter Bürgerkrieg" beziehen Sie sich auf eine Formulierung des Parlamentspräsidenten Laszlo Köver, der vor einigen Jahren sagte, in Ungarn finde kein demokratischer Wettbewerb statt, sondern es herrsche ein kalter Bürgerkrieg...
Ja. Das war ein präziser Ausdruck. Es geht nicht um einen spontanen Ausbruch, sondern dieser Krieg ist irgendwann erklärt worden. Politisch haben wir einerseits eine EU-skeptische, nationalistische und autoritäre Strömung, andererseits eine Europa-gläubige und nicht nationalistische, die natürlich etwas toleranter ist als die erste Strömung. Die gesellschaftliche Spaltung, die sich daraus ergeben hat, ist leider real und hat ein sehr aggressives Stadium erreicht. Wenn man Leute in Ungarn heute irgendetwas fragt, über einen neuen Film, über ein neues Buch, egal was, kommt sofort diese tiefe Spaltung zum Vorschein. Diese Aggressivität vergiftet das gesamte öffentliche Klima.
Der ungarische Schriftsteller György Dalos
Worum geht es eigentlich? Was liegt unter der Oberfläche dieser Spaltung?
Ich denke, es geht um ein ideologisches Gespenst, das von Orban und seiner Partei Fidesz aufgebaut wurde. Und zwar um die Frage: Wer ist Ungar und wer ist kein Ungar? Im einfachsten Fall ist derjenige ein echter und anständiger Ungar, der für die Orban-Regierung ist. Wer gegen sie ist, kann kein richtiger Ungar sein. Im Extremfall erhält diese Deutung einen nationalistischen, rassistischen Charakter. Denn was ist ein Ungar, der kein Ungar ist? Ein Schwede ist er nicht, ein Russe auch nicht. Also muss er das sein, was in der ungarischen Tradition schon immer diejenigen waren, die als Nicht-Ungarn abgestempelt wurden: entweder Juden oder Zigeuner, also Roma. Oder Agenten irgendwelcher ausländischen Mächte.
Schon in den 1990er Jahren war in Ungarn eine gewisse gesellschaftliche Spaltung in ein nationales und ein liberales Lager spürbar. Ist eine der Ursachen dafür der schlecht vollzogene Systemwechsel nach dem Ende der realsozialistischen Diktatur?
Das größte Problem in Ungarn begann damit, dass die Wende ganz leicht war. Sie war nicht nur friedlich, sondern fand quasi in einem Konsens statt. Der lautete: Wir sind Ungarn, wir können alle Probleme lösen, wenn erstens die sowjetische Armee das Land verlässt, zweitens Ungarn eine unabhängige Republik wird und drittens wir in der Europäischen Union unseren Platz finden. Vor allem von der europäischen Integration erwartete man die Lösung fast aller Probleme. Man dachte, dass es zu einer Blütezeit führen würde, wenn die politischen und moralischen Werte der freien Welt in Ungarn übernommen werden. Das ist aber nicht geschehen. Und das trifft auch für die anderen Ostblockstaaten zu. Es gab zu große Erwartungen. Irgendwann musste deshalb die Spaltung kommen.
Welche Rolle spielte die ungerechte Verteilung des einstigen sogenannten Volkseigentums?
Mit der Neuordnung der Eigentumsverhältnisse nach 1989/90 änderte sich Ungarn historisch, nur nicht unbedingt so, wie man es erwartet hätte. Damals war das Eigentum da, man musste sich nur herunterbeugen und es aufheben. Die große Frage war, wer die neuen Eigentümer sein würden. Wie auch anderswo, gab es in Ungarn eine starke Gruppe, die den Großteil dieses Eigentums aufhob, das waren die Jüngeren unter den ehemaligen Funktionären, die technokratischen, nicht die ideologischen Kommunisten. Diese Art der Privatisierung war in den postkommunistischen Ostblockstaaten nach 1989/90 die eigentliche Ursache fast aller Konflikte.
Reicht die gesellschaftliche Spaltung Ungarns noch tiefer in die Geschichte zurück als bis in die ersten postkommunistischen Jahre?
Einheitlich war die ungarische Gesellschaft selbstverständlich nie. Was es aber früher so nicht gab, etwa an der Wende zum 20. Jahrhundert, als der ungarische Parlamentarismus aufblühte, war der absolut unversöhnliche Hass. Wenn die Herrschaften damals im Parlament sprachen, hörte es sich so an, als seien sie Todfeinde, doch abends trafen sie sich im Casino. Bis 18 Uhr war man Todfeind, nach 20 Uhr nicht mehr. Aber diese Art, zu Friedenszeiten so hartnäckige Frontlinien zu haben wie jetzt in Ungarn, war das Werk der zweiten Orban-Regierung, also nach 2010. In der Zeit der ersten Orban-Regierung, von 1998 bis 2002, konnte man noch mit den Regierungsleuten sprechen, auch wenn es nicht immer angenehm war.
Das ging nach 2010 nicht mehr?
Nein. Vor 15 Jahren wäre es noch eine Ungeheuerlichkeit gewesen, wenn Regierungspolitiker mit der Opposition keinen Kaffee mehr hätten trinken können. Das ist jetzt der Normalzustand. Man spricht nicht miteinander. Das Schlimme ist: Dieser Zustand hat eine Eigendynamik entwickelt. Die Spaltung funktioniert bereits unabhängig von den Kämpfen der Parteien.
Welche Folgen kann das haben?
Es kann dramatische Folgen haben, wenn die Regierung sich vor ein Problem gestellt sieht, dass sie nicht alleine lösen kann, aber keinen Gesprächspartner mehr hat. Sagen wir, ein starker Konflikt mit der EU. Oder wenn wir in die Ukraine schauen, dann kann Ungarn leicht zwischen die beiden Blöcke geraten, also zwischen Russland und den Westen. Das ist die historische Rolle Ungarns. Zwischen zwei stärkeren Seiten zu stehen. In dieser Situation kann plötzlich alles sehr eruptiv werden.
Ungarn vor den Wahlen: Was zählt auf dem Land?
Lässt sich diese tiefe Spaltung in absehbarer Zeit aufheben?
Es ist jedenfalls nicht unbedingt die Frage eines Wahlsiegs der Opposition. Obwohl die Chancen, die Spaltung aufzuheben, natürlich größer wären, wenn man die bisherigen Machthaber abwählen würde. Vor allem müsste dieser kalte Bürgerkrieg aufhören, das Gleichgewicht in der Gesellschaft müsste wieder da sein. Es kann durchaus weiterhin zwei politische Blöcke geben, aber es muss möglich sein, dass sie untereinander Kompromisse schließen. Unabhängig vom Wahlausgang denke ich, dass in Ungarn strategisch derjenige siegen wird, der den Frieden wieder herstellt. Aber ich sehe nicht, wer dazu fähig und imstande ist.
Das klingt nicht sehr optimistisch.
Naja, ich bin kein geborener Optimist, aber ich habe schon Überraschungen erlebt. Wenn jemand mir 1967 gesagt hätte, dass die realsozialistische Diktatur in gut 20 Jahren endet, hätte ich das nicht geglaubt, weil alles so stabil aussah. Ich bin nur in dem Sinne nicht Pessimist, dass ich offen bin für angenehme Überraschungen.
György Dalos, geboren 1943 in Budapest, ist einer der bekanntesten ungarischen Schriftsteller der Gegenwart. Er studierte Geschichte in Moskau und arbeitete als Museologe und Übersetzer in Budapest. Dalos gehört zu den Mitbegründern der demokratischen Opposition unter der realsozialistischen Diktatur in Ungarn und hatte seit Ende der 1960er Jahre Publikationsverbot im Land. Nach dem Sturz der Diktatur war er in Deutschland für Ungarn lange Zeit kulturpolitisch tätig, unter anderem als Leiter des Hauses Ungarn in Berlin. Dalos lebt in Berlin.
Autor: Keno Verseck