Wednesday, March 16, 2022
Mariupol, Charkiw, Kiew, Mykolajiw: Beschießen, einkreisen, vernichten: Wie Russland Krieg gegen die Städte führt
Handelsblatt
Mariupol, Charkiw, Kiew, Mykolajiw: Beschießen, einkreisen, vernichten: Wie Russland Krieg gegen die Städte führt
Krause, Daniel von Marschall, Christoph Nietfeld, Joana - Vor 1 Std.
Die Lage in vielen ukrainischen Städten ist dramatisch. Wenn Wasser, Strom und Heizung gekappt sind und die Lebensmittel ausgehen, wird das Überleben unmöglich.
Männer kochen inmitten von Trümmern eine Mahlzeit in einer Straße.
Krieg ist immer grausam für die Zivilbevölkerung. Doch die Schicksale von Charkiw, Cherson, Irpin, Mariupol, Mikolajiw zeigen: Wladimir Putin legt es auf die Zerstörung der Städte und ihrer zivilen Infrastruktur an. Sie ist nicht der traurige Kollateralschaden der Kämpfe, sie ist das Ziel der Angriffe. So ist er schon in Tschetschenien und Syrien vorgegangen.
Auf Zivilisten und ihre Schutzrechte nimmt er keine Rücksicht. Selbst Kliniken, Kindergärten und Spielplätze sind Ziele der Luftangriffe, Wohngebäude ohnehin. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, die Vernichtung der Städte ist ihm wichtiger als ihre Eroberung.
Wenn Wasser, Strom und Heizung gekappt sind, wenn die Lebensmittel ausgehen und Verwundete und Kranke nicht mehr auf Gesundheitsdienste hoffen können, wird das Überleben unmöglich. Die Grenze zu systematischen Kriegsverbrechen ist längst überschritten.
Der Vernichtungswahn hat augenscheinlich Methode. Denn selbst wenn seine Eroberungspläne scheitern: Die Bilder des Terrors gegen Bevölkerungszentren sollen Angst einflößen und alle abschrecken, die es wagen könnten, sich gegen Putin aufzulehnen.
Mariupol
Am stärksten ist wohl die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer im Südosten der Ukraine betroffen. Die Stadt mit etwa 400.000 Einwohner:innen liegt zwischen der von Russland annektierten Krim und den vom Kreml besetzten Regionen Luhansk und Donezk. Seit Tagen belagern russische Truppen die Stadt und schneiden sie vom übrigen Land ab.
Luftaufnahmen erwecken den Eindruck, es stehe kaum noch ein Gebäude. Bürgermeister Wadym Bojtschenko berichtet von Raketenbeschuss im 30-Minuten-Takt. Fotos vom Angriff auf eine Entbindungsstation gingen um die Welt. Laut BBC sind derzeit Hunderte im Keller eines öffentlichen Gebäudes zusammengepfercht. Ihnen sollen die Lebensmittel ausgehen und viele brauchen medizinische Hilfe, da sich durch Granatsplitter zugezogene Wunden, entzündeten.
Petro Andrjuschtschenko, ein Berater des Bürgermeisters, nannte die Lage in der Stadt „unmenschlich“: „Kein Essen, kein Wasser, kein Licht, keine Wärme.“ Laut Stadtverwaltung wurden 2357 Menschen getötet, für die Leichen werden Massengräber ausgehoben.
Der Berater des Bürgermeisters befürchtet, dass die Zahl der Toten mit zunehmender Intensivierung der russischen Angriffe auf bis zu 20000 steigen könnte. Am Dienstagmittag wird ein kurzer Lichtblick verkündet: Etwa 2000 Autos sollen die Stadt in Richtung Westen verlassen haben.
Kiew
Erst am Montag gab der Putin-Vertraute und Chef der russischen Nationalgarde, Viktor Solotow, zu, dass der Vormarsch in der Ukraine langsamer verläuft als geplant. Der erste russische Militär aus der Umgebung Putins, der sich so äußerte. Sinnbild für dieses Eingeständnis ist der kilometerlange Militärkonvoi im Norden Kiews sein, der seit Tagen nicht vorankommt.
Unterdessen gehen die Versuche, die ukrainische Hauptstadt einzukesseln, weiter. In der Nacht zu Dienstag waren heftige Explosionen zu hören, mehrere Wohnblocks wurden beschossen. Laut Bürgermeister Vitali Klitschko sollen bei den Angriffen vier Menschen getötet worden sein.
Klitschko befürchtet noch intensiveren Beschuss in den kommenden Tagen und verhängte deshalb eine 35-stündige Ausgangssperre ab Dienstagabend. „Es ist verboten, sich ohne Sondergenehmigung in der Stadt zu bewegen, es sei denn, man begibt sich in Luftschutzräume“, sagte er.
Von den ehemals drei Millionen Einwohnern der ukrainischen Hauptstadt sollen bereits die Hälfte die Flucht ergriffen haben. Sie können die Stadt nur noch in Richtung Süden verlassen.
Charkiw
Charkiw im Nordosten der Ukraine ist die zweitgrößte Stadt des Landes. Nahe der russischen Grenze lebten hier vor dem Krieg 1,5 Millionen Menschen, die Mehrheit von ihnen spricht Russisch als Muttersprache. Seit Ende Februar stehen nördlich der Millionenstadt russische Truppen. Da die Stadt – anders als Mariupol – nicht vollständig umzingelt ist, können sich Frauen und Kinder in die Westukraine in Sicherheit bringen. Auch Züge fahren noch.
Durch Luftangriffe wurden hunderte Wohnhäuser und zivile Einrichtungen beschädigt oder zerstört. Vor zwei Wochen hatte ein Luftangriff den Hauptsitz der Regionalverwaltung im Stadtzentrum getroffen.
Zwischenzeitlich konnte ein Vormarsch russischer Einheiten in die Millionenstadt durch ukrainische Truppen zurückgeschlagen werden. Ein Bewohner schilderte dem Tagesspiegel vergangene Woche, dass Russland keine Angriffe mehr fliegen würde.
In den nördlichen und östlichen Stadtbezirken gebe es aber immer wieder Artilleriebeschuss. Die Polizeibehörden der Region Charkiw sprechen von 212 getöteten Zivilisten.
Mykolajiw
In der am Schwarzen Meer gelegenen Hafenstadt Mykolajiw, unweit von Odessa, im Süden der Ukraine hat sich laut Gouverneur Vitali Kim die Lage zuletzt etwas beruhigt. Zwar werde die 480.000-Einwohnerstadt weiterhin beschossen, sagte Kim in einem Fernsehinterview, doch „Sie können zu 99 Prozent sicher sein, dass die Region Mykolajiw den russischen Vorstoß aufhalten wird“.
So berichtet das Handelsblatt über den Ukrainekrieg:„Hurrikan des Hungers“ – So gefährlich ist der russische Weizen-Exportstopp
„Putin will den Blutzoll in die Höhe treiben“ – Völkerrechtler warnt vor weiterer Eskalation
UN-Generalsekretär warnt vor Gefahr eines nuklearen Konflikts
Ukraine-Botschafter erklärt Schröder-Vermittlung für gescheitert – „Sache ist endgültig erledigt“Schließlich müssten die russischen Truppen dafür den Fluss Bug überqueren. „Wir werden unsere Brücken nicht den Invasoren überlassen.“
Die russische Armee hatte am vergangenen Wochenende versucht, die Stadt einzunehmen. Wie eine Reporterin der Nachrichtenagentur AFP berichtete, wurde Mykolajiw in der Nacht zum Samstag ununterbrochen beschossen.
Getroffen wurden unter anderem eine Tagesklinik für Krebspatienten und eine Augenklinik. In dem renovierten Krebszentrum, in dem sich Patienten tagsüber einer Chemotherapie unterziehen, gingen Fenster zu Bruch.
Es gebe in der Gegend nur zivile und keine militärischen Ziele, sagte der Leiter des Krankenhauses im Stadtviertel Ingulski, Dmytro Lagotschew. „Hier gibt es ein Krankenhaus, ein Waisenhaus, eine Augenklinik.“