Wednesday, March 2, 2022

«Man möchte Russland ärmer machen, damit es sich derartige Militäroperationen in Zukunft nicht mehr in dieser Form erlauben kann»

Neue Zürcher Zeitung Deutschland INTERVIEW - «Man möchte Russland ärmer machen, damit es sich derartige Militäroperationen in Zukunft nicht mehr in dieser Form erlauben kann» Lorenz Honegger - Gestern um 14:06 © Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschland Herr Kluge, der Westen hat nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine weitreichende Sanktionen ergriffen. Was lässt sich eine Woche später sagen: Wirken sie? Es hat noch nie Sanktionen dieses Ausmasses in dieser Geschwindigkeit gegen so ein grosses, international vernetztes Land gegeben. Deshalb ist es auf jeden Fall historisch ein einmaliger Vorgang, der die russische Wirtschaft komplett verändern wird. Russland bewegt sich gerade von einer modernen integrierten Volkswirtschaft in ein Szenario, das an Iran erinnert. Wir sehen einen Exodus ausländischer Investoren aus Russland. Das Kapitel Russland ist für die meisten Grossunternehmen jetzt vorbei. Und das betrifft nicht nur Investoren, es betrifft auch Lieferbeziehungen, es betrifft alle möglichen finanziellen Transaktionen. Das Land begibt sich in eine wirtschaftliche Isolation. Ich glaube, Russland wird dieses Jahr in die grösste Krise seit den frühen 1990er Jahren rutschen. Wir werden auf jeden Fall einen zweistelligen Einbruch des Bruttoinlandprodukts sehen. Die russische Wirtschaft verändert sich komplett, und das wird sich erst in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten so richtig zeigen. Diese Entwicklung wird sich auch sehr stark auf das Leben der Menschen in Russland auswirken. Welche Sanktionen haben bis anhin den grössten Effekt? Die härtesten Massnahmen sind die Sanktionen der Vereinigten Staaten gegen grosse russische Banken. Damit werden kritische Teile des russischen Bankensystems vom internationalen Finanzmarkt abgeschnitten. Letztlich geht es gar nicht so sehr um die zurzeit konkret ergriffenen Massnahmen, sondern darum, dass sich das grundsätzliche Denken in der globalen Wirtschaft in Bezug auf Russland verändert. Die Unsicherheit ist extrem gross. Die Wirtschaftsakteure halten sich nicht nur an die gegenwärtig gültigen Sanktionen, sondern sie gehen weit darüber hinaus. Sie antizipieren eine viel grössere Veränderung und nehmen diese Veränderungen schon vorweg in ihrem Handeln. Die strafende Reaktion der Märkte ist eigentlich die härteste Sanktion gegen Russland. Schweizer und europäische Banken haben in der Vergangenheit gute Geschäfte mit russischen Kunden gemacht. Wie beurteilen Sie deren Lage? Für europäische Banken sind Geschäfte mit Russland zurzeit toxisch. Das liegt nicht nur an den beschlossenen Massnahmen: Selbst wenn eine russische Bank derzeit nicht mit Sanktionen belegt ist, können Geschäftsbeziehungen zu ihr potenziell problematisch und risikobehaftet sein. Deshalb lassen europäische Banken im Moment die Finger von allen russischen Geschäften, zumindest so lange, bis mehr Klarheit herrscht. Russland orientiert sich stark nach China. Peking wiederum hat seine enge Verbundenheit mit Moskau jüngst klar zum Ausdruck gebracht. Inwiefern kann China den Effekt der Sanktionen abfedern? China verhält sich opportunistisch. Chinesische Unternehmen werden sich zwar an den grössten Teil der internationalen Sanktionen halten, aber der Staat wird die Sanktionen nicht mittragen und sie auch verurteilen. Letztlich möchte China nicht in diesen Konflikt mit hineingezogen werden und die eigenen Beziehungen zum Westen nicht gefährden; diese sind wirtschaftlich viel, viel wichtiger als die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland. Peking will die Kontrolle über die eigenen Beziehungen zum Westen behalten und sie nicht in die Hände Moskaus geben. Russland erwartet auch kaum, dass China jetzt in die Bresche springt, das ist beiden Seiten klar. Aufgrund der Abhängigkeit des Westens von russischem Erdöl und Erdgas bleibt Moskau die wichtigste Einnahmequelle ohnehin erhalten. Natürlich läuft der Handel mit Öl und Gas und einigen anderen Rohstoffen gegenwärtig weiter. Es kann aber sein, dass auch dieser Bereich noch mit Sanktionen belegt wird, auch wenn das aus Sicht des Westens schwieriger ist als bei den Finanzsanktionen. Derzeit wird täglich etwas mehr als eine Milliarde Dollar in Devisen in die russischen Kassen gespült. Dadurch werden die übrigen Sanktionen ein Stück weit entkräftet. Es ist unglaublich schwierig, den Rohstoffhandel mit einem Embargo zu belegen. Was müsste geschehen? Das wäre nur möglich, wenn man gleichzeitig grosse Mengen Öl aus strategischen Reserven freigibt oder beispielsweise die Opec-Staaten dazu drängt, selber die Erdölförderung zu erhöhen. Ich bin mir sicher, dass man mit Saudiarabien entsprechende Gespräche führt. Das Land könnte ein bis zwei Millionen Fass mehr pro Tag fördern und wäre sicherlich auch daran interessiert, Russland die Marktanteile abzujagen. Das Embargo wird aber kaum die gesamte russische Produktion treffen. Beispielsweise ist es nicht zu erwarten, dass China sich daran beteiligen würde. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Preissteigerungen als Folge des Embargos im Extremfall den ganzen Effekt überkompensieren könnten und Russland so viel Geld in die Kassen spülen, dass dem Land letztlich praktisch kein Schaden erwächst. Wie sieht es beim Erdgas aus? Das Erdgas spielt für Russland finanziell eine deutlich geringere Rolle als das Erdöl. Die täglichen Einnahmen sind etwa viermal geringer. Aber natürlich gibt es eine Abhängigkeit in Europa von russischem Erdgas. Es gibt Szenarien, in denen auch Europa ohne russisches Gas auskommen könnte. Das sind Notfallszenarien, in denen man sehr weitreichende Entscheidungen fällen müsste. Man könnte in Deutschland die Kernkraftwerke länger betreiben, die Erdgasfelder im niederländischen Groningen reaktivieren oder auch viel stärker wieder auf Braunkohlekraftwerke setzen, um diesen Ausfall bei der Stromerzeugung auszugleichen. Es ist nicht so, dass Europäer fürchten müssen, dass die Heizungen nicht mehr angehen, es ist eine Frage des Preises. Die russische Wirtschaft befindet sich auf dem Weg in die Isolation. Im Bild: Wladimir Putin bei der Besichtigung der Fabrikhallen von Energomasch, einem Hersteller von Raketentriebwerken bei Moskau. Sputnik / Reuters Die russische Wirtschaft befindet sich auf dem Weg in die Isolation. Im Bild: Wladimir Putin bei der Besichtigung der Fabrikhallen von Energomasch, einem Hersteller von Raketentriebwerken bei Moskau. Sputnik / Reuters Noch einmal zur direkten Wirkung der Sanktionen: Bis jetzt scheinen die Strafmassnahmen keinen Einfluss auf das Vorpreschen der russischen Armee gehabt zu haben. Die Offensive hat eher noch an Intensität zugenommen. Die Frage ist natürlich, wie man die Wirkung von Sanktionen beurteilt. Letztlich gibt es verschiedene Ziele: Das erste ist, dass man die russische Bevölkerung wachrütteln will. Einem Grossteil der Bevölkerung ist nicht klar, was da gerade passiert, weil die Offensive durch die russische Propaganda sehr verzerrt dargestellt wird. Der Westen möchte die russische Bevölkerung ein Stück weit gegen Putin aufbringen. Und man will die wirtschaftlichen und politischen Eliten gegen Putin aufbringen und ihnen klarmachen: Putin ist ein Problem für euch. Und schliesslich sind die Sanktionen auch eine Form des Containments: Diese Krise wird uns noch viele Jahre beschäftigen. Man möchte Russland ärmer machen, damit es sich derartige Militäroperationen und Investitionen in die eigene Rüstung in Zukunft nicht mehr in dieser Form erlauben kann. Das sind eher mittel- bis langfristige Ziele. Ein rascher Waffenstillstand oder Ähnliches ist aber nicht zu erwarten. Die Hoffnung gibt es natürlich. Am ehesten wahrscheinlich wäre das im Fall von grossen, nicht mehr tragbaren russischen Verlusten in der Ukraine und einer kippenden Stimmung in Russland. Dann könnte der Westen sagen, man gehe mit den Sanktionen ein Stück weit zurück als Kompromiss im Rahmen eines Waffenstillstands oder einer Verhandlungslösung. Ob es so weit kommt, können wir jetzt nicht sagen. Es gibt keine historischen Präzedenzfälle, weil diese Art von Sanktionen tatsächlich historisch sind. Sehen Sie am Verhalten von Wladimir Putin in den vergangenen Tagen Anzeichen, dass er langsam unter Druck gerät? Wenn es so wäre, würde man das von aussen nicht erkennen. Aber wir können davon ausgehen, dass es Putin im Vorfeld nicht für möglich gehalten hat, dass der Westen so harte Sanktionen einführen würde. Die Wirkung der Sanktionen wird sich in den nächsten Tagen und Wochen entfalten. Erst wenn die Bänder in russischen Fabriken stillstehen, weil die Zulieferer aus dem Ausland keine Teile mehr liefern, und erst wenn die Menschen arbeitslos werden, dürfte es der russischen Regierung so richtig klarwerden, was es bedeutet, eine isolierte Wirtschaft zu haben. Und wie wahrscheinlich ist es, dass Putin persönlich als Staatschef die Unterstützung in der Elite und in der Bevölkerung verliert? Das ist denkbar, aber momentan noch nicht zu erkennen. Es gibt keine Rücktritte und kaum Protest aus den Reihen der politischen Elite. Zur Person Janis Kluge – Wirtschaftswissenschafter Janis Kluge ist Wirtschaftswissenschafter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Seine Forschungsinteressen umfassen das Verhältnis von Russland und China, die russische Innenpolitik, Russlands wirtschaftliche Eliten, Sanktionen und ihre Wirkung sowie die wirtschaftliche Entwicklung Russlands.