Wednesday, March 2, 2022

Leben ohne London: Russische Konzerne schreiben ihren liebsten Finanzplatz ab

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Leben ohne London: Russische Konzerne schreiben ihren liebsten Finanzplatz ab Benjamin Triebe, London - Gestern um 05:30 Im Herzen des britischen Finanzplatzes weht nicht mehr die russische Fahne. Wortwörtlich. Direkt gegenüber der Bank of England, mitten in der Londoner City, liegt das Büro von VTB Capital. Es ist die Investment-Banking-Tochter der vom Kreml kontrollierten Bank VTB. Deren Vermögenswerte wurden nach Putins Angriff auf die Ukraine eingefroren. Die Londoner Filiale der VTB, des zweitgrössten Finanzinstituts von Russland, ist durch die Sanktionen stillgelegt. Die russische Trikolore vor dem Haus wurde eingeholt. Katastrophaler Kurszerfall Die Stilllegung hat für die VTB-Banker einen Vorteil: Sie müssen ihrem Aktienkurs nicht mehr beim Absturz zusehen. VTB-Papiere dürfen an der Londoner Börse nicht mehr gehandelt werden, und die Börse in Moskau ist geschlossen. Doch mit Ausnahme von VTB zeigt sich an der Themse sehr wohl, wie die Stimmung der Investoren gegenüber russischen Papieren gerade ist: katastrophal. Valoren der Sberbank, des grössten russischen Geldhauses, haben an der Londoner Börse inzwischen 90 Prozent ihres Werts verloren, ebenso wie Titel des Erdgasriesen Gazprom. Mit den Kursverlusten, den Sanktionen und der Desintegration Russlands aus der internationalen Finanzwelt endet auch in London ein bewegtes Kapitel. Es ist kein Zufall, dass an der Themse viele russische Konzerne zu finden sind. London ist ihr bevorzugter ausländischer Finanzmarkt und war lange Zeit wichtiger als die Heimatbörse in Moskau. Allein seit 2005 haben russische Firmen in London laut dem Datenanbieter FactSet rund 44 Milliarden Dollar eingesammelt. Ihre Marktkapitalisierung belief sich Ende vergangener Woche laut Reuters auf mehr als 500 Milliarden Dollar. Eine Börse ist ein Ort, um sich Kapital zu beschaffen. Als die Sowjetunion im Jahr 1991 zusammenbrach, gab es in Moskau weder Börse noch Kapital. Also suchten die Konzerne ihr Glück im Ausland. Die erste Anlaufstelle waren die USA, wo der Telekommunikationsanbieter Vimpelcom im Jahr 1996 die erste russische Firma wurde, die sich an der New Yorker Börse kotieren liess. Ab dem Ende der neunziger Jahre entdeckten die Unternehmen auch London. Das nahm zu, als im Jahr 2002 in den USA nach dem Enron-Skandal die Wirtschaftsprüfung verschärft wurde. Freier als in New York In London wurden russische Firmen stattdessen mit offenen Armen, Rechtssicherheit und nicht zu harter Regulierung empfangen. Die grössten Neuankömmlinge waren oft jene, die etwas verkauften, was die Welt brauchte: Förderer und Produzenten von Rohstoffen, seien es Öl, Gas, Kohle, Erz, Stahl oder Metalle. Dass sie sich oftmals im Besitz von Magnaten befanden und die Geschäftspraktiken in Russland nicht lupenrein waren, störte in London wenig. Die Liquidität war tiefer als in New York, aber die Kosten an der London Stock Exchange (LSE) waren es auch. Viele Rohstoff- und Metallkonzerne gingen nach London – so wie der Aluminiumriese Rusal. Andrey Rudakov / Bloomberg Dem Erdölriesen Rosneft, heute neben Gazprom das Schwergewicht in der Energiewirtschaft des Kremls, gelang im Jahr 2006 der grösste Börsengang eines russischen Konzerns. Fast 11 Milliarden Dollar nahm Rosneft mit einer Doppelkotierung in London und Moskau ein. Dieses Modell war beliebt. Dabei wurden in Moskau normale Aktien ausgegeben, in London aber Hinterlegungsscheine (global depository receipts, GDR). Ein GDR repräsentiert den Anspruch auf eine Anzahl Aktien. Die Herausgabe von GDR ist leichter als die Erfüllung der Vorschriften für einen vollwertigen Börsengang in London. Vor der globalen Finanzkrise, auf dem Höhepunkt der russischen Liebe für London, wurden mehrere Dutzend Firmen an der Themse gehandelt – die meisten durch die Zweitkotierung von Hinterlegungsscheinen. Zwei Unternehmen haben es durch eine vollwertige Kotierung sogar in den britischen Leitindex FTSE 100 geschafft: der Stahlkonzern Evraz, an dem der Magnat Roman Abramowitsch beteiligt ist, und der Edelmetallförderer Polymetal. Aufgrund der extremen Kursverluste dürften beide Firmen in dieser Woche aus dem Index geworfen werden. Mit der Krim kam die Wende Doch viele russische Firmen können in London keine Kursverluste mehr verzeichnen – weil sie gar nicht mehr da sind. Der Rückzug begann im Jahr 2014 wegen Russlands Krim-Annexion und des Konflikts im Donbass. Die Zahl der russischen GDR-Emittenten ist mittlerweile auf 24 gefallen. Sie stellen zwar noch die grösste Ländergruppe im internationalen Handelsbuch der LSE, aber das Volumen des aufgenommenen Kapitals ist stark gesunken. Seit 2014 sind nur wenige russische Konzerne neu hinzugekommen. Einer von ihnen zeigt, warum die britische Hauptstadt ein härteres Pflaster geworden ist: En+, die Holding des Aluminiumriesen Rusal, nahm Ende 2017 in London immerhin 1,5 Milliarden Dollar auf. Nur wenige Wochen später wurde der Mehrheitsaktionär Oleg Deripaska wegen seiner Nähe zum Kremlchef Wladimir Putin auf die Sanktionsliste der USA gesetzt – und mit ihm beide Unternehmen. Die Firmen wurden erst von den Sanktionen befreit, als Deripaska seinen Anteil an En+ reduzierte. Dass En+ überhaupt an die Börse durfte, provozierte hitzige politische Debatten. Der Glanz ist weg Für russische Emittenten verblasste Londons Glanz. Die internationalen Sanktionen, die Zurückhaltung westlicher Geschäftspartner und die Kosten, um wachsende Regeln und Transparenzvorschriften einzuhalten, machten die Präsenz an der LSE zum Luxus. Gleichzeitig modernisierte sich die Moskauer Börse, wurde attraktiver und liquider. Als die «Financial Times» im Jahr 2017 über die Heimkehr russischer Firmen berichtete, bekam sie einen Leserbrief aus Moskau: «Der russische Wähler lässt einen Herrscher im Kreml an der Macht, solange er seine Grundbedürfnisse erfüllt. Der russische Aktionär behält den Firmenchef, solange die Dividende garantiert ist», hiess es in der Zuschrift. So sei es kein Wunder, dass die Kotierung in London nicht mehr zu den Prioritäten zähle. «Sie bietet Prestige und kostet Geld, sonst nichts. In Moskau zu sein, das zahlt sich aus.» Es sei denn, der Herrscher im Kreml will es anders.