Wednesday, March 16, 2022
Krieg gegen die Ukraine: Noch hilft das Reden nicht
ZEIT ONLINE
Krieg gegen die Ukraine: Noch hilft das Reden nicht
Carsten Luther - Vor 8 Std.
Auf einen schmutzigen Frieden kann sich die Ukraine nicht einlassen, die Verhandler geben sich trotzdem optimistisch. Aber erst wenn Putin verliert, ist ein Sieg möglich.
Wenn der ukrainische Präsident richtig liegt, dann hat Russland "bereits begonnen zu verstehen, dass es mit Krieg nichts erreichen wird". Wer möchte das nicht gern glauben? Vor der fortgesetzten Verhandlungsrunde von Delegationen beider Länder hatte Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft mitgeteilt, die Gespräche liefen "ziemlich gut". Und auch der russische Präsident Wladimir Putin hatte kürzlich noch von "positiven Fortschritten" gesprochen, während allerdings seine Truppen ohne Unterlass das Grauen des Krieges über die Ukrainerinnen und Ukrainer bringen, am Tag wie in der Nacht.
Geländegewinne machen die russischen Soldaten dabei derzeit kaum noch, was nichts Entlastendes über den tödlichen Terror aussagt, mit dem sie in diesen Tagen das Nachbarland überziehen: Geschosse und Raketen auf Wohngebiete in belagerten Städten, Gesundheitseinrichtungen, überhaupt zivile Infrastruktur und auch auf fliehende Menschen – mit dem Ziel, den Widerstand zu brechen.
Ohne Frage ist dieser Krieg mit dem stockenden Vormarsch russischer Truppen an einem entscheidenden Punkt angelangt oder wenigstens kurz davor. "Wir stehen am Scheideweg", lautet die Einschätzung des ukrainischen Präsidentenberaters Alexej Arestowytsch zwischen den laufenden Runden. "Entweder werden wir uns bei den aktuellen Gesprächen einigen oder die Russen werden einen zweiten Versuch (einer Offensive) starten, und dann wird es wieder Gespräche geben." Erreicht wurde mit den Verhandlungen an diesem Dienstag, bei denen die ukrainische Seite weiter auf eine Waffenruhe und den Rückzug russischer Truppen drängte, wieder einmal kein vorzeigbares Ergebnis. Am Telefon mit EU-Ratspräsident Charles Michel soll sich Putin denn auch beschwert haben, "dass Kiew keine ernsthafte Haltung zur Suche nach für beide Seiten akzeptablen Lösungen zeigt", wie es in einer Kremlmitteilung hieß.
Woher kommt also der Optimismus, den Teile der ukrainischen Führung verbreiten? Arestowytsch sagt immerhin einigermaßen konkret: "Ich denke, wir sollten bis Mai, Anfang Mai, ein Friedensabkommen haben, vielleicht viel früher, wir werden sehen." Und wie sähe eine Vereinbarung aus, die beide Seiten annehmen könnten? Wie soll ein Kompromiss möglich sein zwischen vollständigem Abzug der Angreifer und Kapitulation der Opfer? Dass die Ukraine auf absehbare Zeit kein Nato-Mitglied wird, damit hat sich Selenskyj seit Langem abgefunden: "Das ist die Wahrheit und wir müssen das anerkennen", sagte er jetzt noch einmal. Aber dass es Putin vor allem um eine "neutrale" Ukraine gehen würde, kann ohnehin niemand mehr glauben. Der Verhandlungsspielraum bleibt also gering.
Der ukrainische Präsidentenberater Ihor Showkwa berichtete am Dienstagabend allerdings erneut, die Gespräche seien "konstruktiver" geworden. "In den ersten Runden war Russland nicht bereit, unsere Position anzuhören, sondern hat Ultimaten gestellt: dass die Ukraine sich ergibt, die Waffen niederlegt, dass unser Präsident eine Kapitulation unterzeichnet." Nun spreche Russland "in einem etwas anderen Ton". Die ukrainische Delegation bleibe "verhalten optimistisch", ein Durchbruch könne aber nur mit Beteiligung der beiden Präsidenten erreicht werden. Der ukrainische Unterhändler Mykhailo Podoliyak berichtete am späten Abend von schwierigen Gesprächen, die an diesem Mittwoch fortgesetzt werden sollen. Es gebe fundamentale Gegensätze zwischen den beiden Seiten, jedoch "sicherlich Raum für Kompromisse".
"Mit jedem Tag, mit jeder Bombe …"
Die Ukrainer vermeiden in der Zwischenzeit so gut es geht den Eindruck, sie könnten sich demnächst auf einen schmutzigen Frieden einlassen, der die Lage wenigstens einfrieren, der also die russische Kontrolle über Teile des Landes, wenn auch nur vorläufig, hinnehmen würde. Zumal das dem Aggressor tatsächlich gefährlich entgegenkäme. Es wäre genau das, was Wladimir Putin jetzt militärisch helfen würde: etwas Ruhe, um Nachschub und Aufstellung seiner Truppen zu verbessern, inklusive derweil rekrutierter Kämpfer aus Syrien, Tschetschenien oder von sonst wo, während er das Erreichte absichern und die nächsten Schritte vorbereiten kann.
Davon zeugen ja bereits jetzt die Versuche, in den eroberten Gemeinden die politische Kontrolle zu festigen, beginnend mit Bürgermeistern und anderen Autoritäten, die verschleppt werden, bis hin zu möglichen Referenden unter vorgehaltener Waffe, die besetzte Gebiete als vermeintlich eigenständige Republiken legitimieren könnten – zumindest in der Parallelwelt des Kremls. Ein neuer Vorwand für die nächste Offensive wäre aus dieser Warte schnell konstruiert und erlogen. Dann hieße es wohl bald wieder: Wir müssen doch den Frieden sichern und die Menschen vor dem Regime in Kiew schützen, Spezialoperation und so fort.
Eine tragfähige diplomatische Lösung wird, wie in jedem existenziellen Krieg, nur dann möglich sein, wenn es für beide Seiten militärisch nichts mehr zu gewinnen gibt – oder nur noch zu verlieren. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind bereits geflohen. Doch solange sich die verbliebenen Kämpferinnen und Kämpfer noch irgendwie auf den Beinen halten können, werden sie ihr Land verteidigen. Den Fehler, sich von außen zu einer Vereinbarung nach Art der Minsker Abkommen drängen zu lassen, die eine echte Souveränität ihres Landes auf Jahre behindert und die Gefahr aus der Nachbarschaft nicht auf Dauer bannt, wird die Ukraine kaum ein zweites Mal machen – ohne absolute Not, ohne Garantien.
Der Punkt, an dem die Kapitulation unausweichlich wird, kann gleichwohl jederzeit erreicht werden. Der Untergang der Ukraine als Staat, die Unterwerfung einer europäischen Nation – der russische Präsident scheint gewillt, den Triumph seines erträumten Imperiums weiter auf dem Schlachtfeld zu suchen. Es mag so sein, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es in der Türkei festgehalten hat: "Mit jedem Tag, mit jeder Bombe entfernt sich Putin mehr aus dem Kreis der Weltgemeinschaft." Aber erst, wenn er endgültig verloren hat, werden alle anderen gewinnen. Den nötigen Schmerz, damit er es einsieht, bereiten ihm unnachgiebige, auch weitere Sanktionen und die ukrainische Armee, wenn die weiter alle Unterstützung bekommt, die der Westen aufbringen kann. Beides muss bleiben, bis die Ukraine wirklich frei ist – was im Übrigen auch Russland zu wünschen wäre.