Wednesday, March 16, 2022

EU-Regierungschefs in Kiew: Was für ein Stunt

ZEIT ONLINE EU-Regierungschefs in Kiew: Was für ein Stunt Christian Bangel - Vor 1 Std. Die Regierungschefs der Nato-Staaten Polen, Tschechien und Slowenien besuchen überraschend Wolodymyr Selenskyj im bombardierten Kiew. So geht Politik in Kriegszeiten. Wenn Leute wie Sloweniens Ministerpräsident Janez Janša und Polens Vizepremier Jarosław Kaczyński von Demokratie und Freiheit reden, dann muss man vorsichtig sein. Keine Sekunde lang sollte man vergessen, dass Polens Regierung den Rechtsstaat am liebsten abschaffen würde, wie rassistisch ihr Umgang mit Geflüchteten ist. Und ebenso wenig, wie sehr Janša in seinem Land die Medien drangsaliert. Und gleichzeitig stimmt auch das: Der Besuch der Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien sowie Kaczyńskis bei Wolodymyr Selenskyj in Kiew war ein riskanter, aber gelungener Schachzug. Riskant, weil es ein persönliches und ein politisches Wagnis war, sich mit dem Zug in die täglich bombardierte Hauptstadt zu begeben und den Präsidenten zu treffen, der auf der Liste der russischen Ziele ganz oben steht. Nicht auszudenken, wenn einem von ihnen etwas zugestoßen wäre. Wir stünden jetzt womöglich unmittelbar vor einem Weltkrieg, schließlich regieren alle drei Politiker Nato-Staaten. Doch es ist nichts passiert. Das ist die erste Botschaft, die Janša, Morawiecki, Fiala und Kaczyński aus der beschossenen Hauptstadt mitbringen: Russland konnte nichts tun, um die drei zu stoppen, ohne damit eine Eskalation des Konflikts mit der Nato zu riskieren. Kiew ist erreichbar, wenn man das will Stattdessen musste Putin zusehen, wie Bilder entstanden, die er mit Sicherheit gern verhindert hätte: Selenskyj im Kreis von Nato-Regierungschefs, Selenskyj in einer funktionierenden Regierungszentrale. Und da ist auch schon die zweite Botschaft: Kiew ist erreichbar, wenn man das will, alle russischen Panzer und Bomber konnten das bisher nicht verhindern. Warum sollte nicht eigentlich auch Olaf Scholz kommen? Oder, noch weiter gedacht: Warum sollten sich die Außenminister und Regierungschefs der westlichen Welt nicht in Kiew die Klinke in die Hand geben, um es für Putin noch riskanter zu machen, die Hauptstadt mit Flächenbombardements zu zermürben? Den vieren ist jedenfalls ein erstaunlicher politischer Stunt gelungen. Ihr Besuch zeigt, wie eine konfrontative, öffentliche Politik gegenüber Putin auch unter den Bedingungen von Krieg und drohender atomarer Eskalation aussehen kann. Sie haben mit ihrer Anwesenheit nicht nur den Menschen in der Ukraine Mut gemacht, sondern auch Putin verdeutlicht, welche Grenzen seine Macht über das Land hat. Auch das zählt in einem Krieg, in dem die russische Führung erhebliche Ressourcen dafür aufwenden muss, die verlustreiche und schleppend vorangehende Invasion im Nachbarland vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. Janša, Marowiecki, Fiala und Kaczyński haben getestet, welchen Spielraum es innerhalb der bitteren Logik gibt, dass der Westen nicht einschreiten kann, ohne einen Weltenbrand auszulösen. Auch wenn Polen jetzt eine bewaffnete Nato-Friedensmission in der Ukraine vorschlägt – eine Idee, die sich klar außerhalb dieses Spielraums befindet –, mit ihrem Besuch haben die Regierungschefs gezeigt, dass die Politik gegenüber Putin leidenschaftlich, agil und trickreich sein kann, ohne zu eskalieren. Es gibt noch mehr politische Möglichkeiten außer Waffenlieferungen und Sanktionen, die unterhalb eines direkten militärischen Eingreifens verbleiben. Man muss sie nur suchen. Gerade wir Deutschen, die wir schon wieder beginnen, uns über Spritpreise aufzuregen und vor einer Rezession zu ängstigen, könnten und sollten uns davon etwas abschauen. Ein kriegsentscheidender Faktor ist nämlich, ob die Ukrainerinnen und Ukrainer sich vom Westen eher unterstützt oder verlassen fühlen. Seien wir froh, dass auch Polen, Slowenien und Tschechien trotz allem zu diesem Westen gehören.