Wednesday, March 16, 2022

Ein Land, das Putin ohne direkten Angriff zermürbt

WELT Ein Land, das Putin ohne direkten Angriff zermürbt Carolina Drüten - Vor 18 Min. Eine russische Separatistenrepublik, die höchste Pro-Kopf-Flüchtlingsrate, kaum Ressourcen: In Moldau braut sich der perfekte Sturm zusammen. Wladimir Putin muss die Nachbarländer der Ukraine nicht angreifen – sein Krieg reicht, um die Region zu destabilisieren. Der Westen steuert dagegen. Mikhaela Pestereanu ist gerade erst mit ihrem Heimatland Moldau warm geworden, als sie es wegen des Kriegs in der Ukraine verlässt. Sie stützt die Arme auf das Fensterbrett des Schlafwagons und starrt in die vorbeirauschende Nacht. Tränen steigen ihr in die Augen. „Ich habe echt Angst“, sagt sie. Pestereanu reist aus Bukarest in die moldauische Hauptstadt Chisinau, um die letzten Sachen aus der Wohnung zu holen und sie an ein geflüchtetes Paar mit zwei Katzen aus der Ukraine zu übergeben. Nur eine Nacht, dann wird sie den gleichen Zug nehmen, in die andere Richtung. Ihre Eltern warten in Rumänien auf sie. Sie wollen den Krieg in Deutschland oder Spanien aussitzen. Der Kleinstaat Republik Moldau, auf der Landkarte eingeklemmt zwischen Rumänien und der Ukraine, ist im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine die Schwachstelle der Region. Weder EU- noch Nato-Mitglied, braut sich dort der perfekte Sturm zusammen: ein prorussischer Separatistenstaat auf dem eigenen Territorium, dort stationierte russische Soldaten und abgelaufene Munition, die ständige Angst vor einem Angriff aus Moskau, die höchste Pro-Kopf-Flüchtlingsrate. Und kaum Ressourcen. Pestereanus Eltern wollen nicht warten, bis russische Soldaten in Chisinau stehen. Ihre Tochter verlässt das Land ihnen zuliebe. Vor einem Angriff hat sie keine Angst, wohl aber davor, was der Krieg nebenan mit ihrem Land macht – diese Unterscheidung ist ihr wichtig. Wie er sich auf die Solidarität und die Einheit der Bevölkerung auswirkt. Wie die Flüchtlinge behandelt werden, nicht nur die gebürtigen Ukrainer, sondern auch jene mit anderen Wurzeln. Dabei hatte die 24-Jährige gerade Hoffnung geschöpft, erzählt Pestereanu im Nachtzug. Einige Jahre hat sie in Österreich gelebt und in Deutschland. Als sie vor drei Jahren nach Moldau zurückkehrte, konnte sie den Wandel spüren. Angst vor dem russischen Einmarsch Junge Menschen, Aktivistinnen, die etwas bewirken wollten. Klimaschutz, Menschenrechte. Die proeuropäische Maia Sandu wurde Premierministerin, dann Präsidentin, setzte sich gegen den Kreml-treuen Gegenkandidaten durch. Sie trat mit dem Versprechen an, das Land gen Westen zu führen. Doch nun geht die Angst vor dem russischen Einmarsch um. Anfang März deutete der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko mit einem Zeigestock auf eine Landkarte mit Zielen der Kreml-Truppen in der Ukraine. Darauf ein roter Pfeil, der auf die Republik Moldau zeigt, genauer gesagt auf die prorussische abtrünnige Region Transnistrien im Osten des Landes, wo bereits jetzt russisches Militär stationiert ist. Kiew warnt vor einem russischen Angriff von der Separatistenrepublik auf die Ukraine: Putin wolle eine Landbrücke über den kompletten Süden der Ukraine bis nach Moldau schaffen. Die ehemalige Sowjetrepublik gehört nach dessen Weltbild zum eigenen Machtgebiet. Irina Tabaranu ist Mitgründerin der moldauischen Publikation „Zona de Securitate“, auf Deutsch Sicherheitszone. Sie berichtet über Transnistrien und die Auswirkungen auf die nationale Sicherheit Moldaus. „Wenn Odessa fällt, wird hier Panik ausbrechen“, sagt sie in einem Café in Chisinau. Die ukrainische Hafenstadt ist nur 60 Kilometer von der moldauischen Grenze entfernt. Es gebe in Moldau viele prorussische Parteien und Bürger, sagt Tabaranu. „Diese Leute werden die Russen willkommen heißen.“ Moskau hätte ein leichtes Spiel mit einer potenziellen Besatzung – anders als in der Ukraine, wo der Widerstand groß ist. Vor gut einer Woche stellte Präsidentin Sandu einen hastigen Antrag auf EU-Mitgliedschaft, ein Schuss ins Blaue. Rund 1500 russische Soldaten befinden sich in der Separatistenrepublik Transnistrien, dazu kommen 10.000 bis 15.000 moskautreue Paramilitärs. Moldau ist militärisch unterlegen, im Ernstfall käme die Nato nicht zu Hilfe. Russische Truppen stünden dann unmittelbar an der Grenze zu Rumänien und damit an der Südostflanke der Allianz. Laut Verfassung ist Moldau – wie etwa Schweden oder Finnland – neutral. Es verpflichtet sich, sich nicht in einen zwischen anderen Staaten bestehenden Konflikt einzumischen und keinen militärischen Bündnissen anzugehören. „Wir sind neutral“, schnaubt Tabaranu, „aber wir haben eine ausländische Armee auf unserem Territorium.“ Man rechnet mit dem Schlimmsten Palanca, an der moldauisch-ukrainischen Grenze. Es hat zu schneien begonnen. Tröpfchenweise kommen die Menschen durch den Checkpoint. Auf der ukrainischen Seite eine Autoschlange, so weit das Auge reicht. Bis in die frühen Morgenstunden, schätzen die Grenzbeamten, werde es dauern, sie abzuarbeiten. Ein paar Kilometer entfernt haben Hilfsorganisationen Zelte aufgebaut. Die meisten sind noch leer. Man rechnet mit dem Schlimmsten – wenn Odessa fällt. Schon jetzt hat die Republik Moldau die höchste Zahl an Geflüchteten relativ zur Bevölkerung. Der Region droht die Überforderung. In den ersten zwei Kriegswochen kamen rund 280.000 Ukrainer über die Grenze Die moldauische Regierung räumt ihre Fragilität offen ein. „Wir sind der schwächste Nachbar der Ukraine“, sagte Außenminister Nicu Popescu vor wenigen Tagen gegenüber einer Gruppe von Journalisten, darunter WELT. „Unsere Fähigkeit, eine relative Stabilität aufrechtzuerhalten, ist strapaziert.“ Das Land sei dem Breaking Point nahe. Jeder Geflüchtete kostet die Regierung täglich 25 US-Dollar. Zwei Drittel der Kosten wird durch internationale Hilfe gedeckt, den Rest zahlt der Staat. In den ersten zwei Kriegswochen kamen rund 280.000 Ukrainer über die Grenze. Chisinau brauche dringend Unterstützung, so der Außenminister. „Niemand kann einen weiteren Staat in einer Notlage gebrauchen“, sagte Popescu. „Natürlich sind wir bereits jetzt in großer Not. Aber niemand braucht eine implodierte Staatsführung in dieser sensiblen Region.“ „Auswirkungen werden noch lange zu spüren sein“ Vielleicht muss Putin seinen Angriffskrieg gar nicht auf die Nachbarländer der Ukraine ausweiten. Vielleicht reicht schon der Terror der vergangenen zweieinhalb Wochen, der die Menschen zur Flucht zwingt. Der Krieg in der Ukraine nagt an der ganzen Region, bindet Ressourcen, destabilisiert Länder wie Moldau, die ohnehin schwach sind. „Die Auswirkungen [des Kriegs] werden noch lange zu spüren sein. Wir reden nicht von Jahren, sondern Jahrzehnten“, sagte Popescu. Der Westen hat verstanden. In den vergangenen Tagen und Wochen kamen prominente Besucher in die Hauptstadt Chisinau und versprachen Hilfe: der amerikanische Außenminister Antony Blinken, der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian, der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Am Samstag war auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock vor Ort. Sie arbeitet an einer Art Luftbrücke für ukrainische Flüchtlinge aus Moldau, um das Land zu entlasten. „Auf Dauer können sie das nicht alleine tragen“, sagte Baerbock. Sie besuchte das größte Flüchtlingslager im Land, auf dem Gelände der MoldExpo. Dort ist auch die Ukrainerin Ekaterina Shipitsina mit ihren zwei Söhnen, Mai (5) und Milan (3), vorübergehend untergebracht. Ihren Mann musste sie in Odessa zurücklassen, er ist im militärpflichtigen Alter. Nun schläft die kleine Familie in einer Kabine, der Eingang ist notdürftig mit einer Decke verhangen. Den Krieg möchten sie in Rumänien aussitzen, weil das Land nahe an ihrer Heimat liegt. Warum nicht in Moldau? Das liegt schließlich noch näher an Odessa. „Wir finden hier keine Unterkunft“, sagt die 31-Jährige. „Es ist alles voll.“