Wednesday, February 12, 2025

„Wachstumskrise hat drei große Ursachen“ - Ökonom erklärt „Deutschlands Wohlstandsillusion“ und zerpflückt die Wahlprogramme

„Wachstumskrise hat drei große Ursachen“ - Ökonom erklärt „Deutschlands Wohlstandsillusion“ und zerpflückt die Wahlprogramme FOCUS-online-Henning Vöpel • 2 Std. • 6 Minuten Lesezeit Insgesamt sind die wirtschaftspolitischen Programme der Parteien enttäuschend. Die Antworten, die sie zu geben versuchen, stehen in keinem Verhältnis zu den gewaltigen Herausforderungen, findet Ökonom Henning Vöpel. Deutschland steckt in einer tiefen wirtschaftlichen Krise: Überbordende Bürokratie, hohe Energiepreise und eine schwache Produktivitätsentwicklung lähmen uns. Ökonom Prof. Henning Vöpel erklärt, warum den Parteien Mut und Vision fehlen und welche Folgen das haben könnte. Die Wirtschaftspolitik steht neben der Migrationsfrage im Mittelpunkt des Wahlkampfes. Und dies völlig zurecht, denn die wirtschaftliche Situation Deutschlands könnte kaum schlechter sein. Überbordende Bürokratie, hohe Energiepreise, zerfallende Infrastruktur, schleppende Digitalisierung und schwache Produktivitätsentwicklung sind Symptome einer Wirtschaft auf Intensivstation. Das dritte Jahr Rezession in Folge droht. Doch dies ist keine Konjunkturkrise, sondern die vielleicht tiefste Struktur- und Wachstumskrise, die die Bundesrepublik je durchgemacht hat. Doch die Programme der Parteien wirken konzept- und visionslos, von Aufbruch und Erneuerung ist wenig zu spüren. Die Bürokratiediskussion dient womöglich nur als Alibi für die verbreitete Mutlosigkeit in Deutschland. Wer Angst vor der eigenen Courage hat, ist zum Stillstand verdammt. Es fehlt ein attraktives, mutiges und Mut machendes Zukunftsnarrativ. Die Wirtschaftskrise ist längst auch eine Mentalitätskrise. Die deutsche Wachstumskrise hat drei große Ursachen Keine vergleichbare Volkswirtschaft hat sich zum Vor-Pandemie-Niveau so schlecht entwickelt wie Deutschland (vgl. Abbildung). Das Wachstumspotenzial beträgt gerade noch ein halbes Prozent pro Jahr. Die deutsche Wachstumskrise hat drei große Ursachen. Erstens: Die Politik hat in jeder Krise der vergangenen zehn Jahre die Strukturen mit viel Geld konserviert. Die Folge: Der aufgestaute Investitionsbedarf ist aus dem immer geringeren Wachstum nicht mehr finanzierbar. Zweitens: Die Politik hat in der Transformation die Rolle des Staates immer weiter ausgedehnt. Die Folge: Der Staat ist zunehmend überfordert und der Markt durch Bürokratie geschwächt. Drittens: Die globale Wirtschaft hat sich durch die geopolitischen Konflikte grundlegend verändert. Die Folge: Das deutsche Wirtschaftsmodell funktioniert nicht mehr. Die Zeitenwende ist für Deutschland auch und vor allem eine Wirtschaftswende. Der Kuchen wird kleiner, aber die Parteien versprechen allen ein größeres Stück Vor dem Hintergrund dieser tiefen strukturellen Umbrüche türmen sich große wirtschaftspolitische Herausforderungen: Rente, Gesundheit und Pflege werden die Umverteilungslast des Staates demografisch bedingt dramatisch ansteigen lassen, die notwendigen Investitionen in die Verteidigung verursachen hohe Sonderausgaben, und die langfristigen Grundlagen unseres Wohlstands, vor allem Bildung und Infrastruktur, müssen dringend erneuert werden. Die notwendigen Investitionen müssen gegen die steigenden Konsumansprüche einer alternden Gesellschaft durchgesetzt werden. Das alles wird ohne Wachstum nicht finanzierbar sein. Doch die Parteien scheinen nach dem Motto zu verfahren „Es ist Zeitenwende, aber niemand soll es merken“. Statt Herausforderungen verständlich zu erklären, Zumutungen ehrlich zu benennen und Lasten fair zu verteilen, wird so getan, als könne man die Finanzierungslücke durch unrealistische Wachstumshoffnungen oder neue Schulden schließen. Die Parteien machen die Wirtschaftskrise weitestgehend zu einer (Um-)Verteilungsfrage. Das ist ökonomisch falsch und politisch gefährlich. Die Verteilungsfrage ist nicht deshalb so akut, weil die Ungerechtigkeit so groß wäre, sondern weil es kein Wachstum mehr gibt. Lähmende und unzufrieden machende Verlustängste herrschen. Die Realitätsflucht von AfD und BSW geht noch weiter: Dort wird die Zeitenwende einfach bestritten: Es gäbe keine Bedrohung durch Russland, Windräder könnte man alle abreißen und die Offenheit der Gesellschaft sei nicht Grundlage, sondern Bedrohung unseres Wohlstands. Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel, Sündenbockpolitik keine Lösung. So bequem der Weg gewesen ist, der in diese Situation geführt hat, so unbequem wird der Weg heraus sein. Aber es gibt keinen anderen. Viele Jahre regierungsübergreifender Fehlausrichtung der Wirtschaftspolitik lassen sich nicht in wenigen Jahren korrigieren. Die nächste Bundesregierung wird also vor den gleichen Herausforderungen stehen wie die alte. Die Politik muss sich aus der Gegenwartsfalle befreien. Der Weg zurück zum Wohlstand führt in die Zukunft. Aber Zukunft braucht Mut und Vertrauen. Beides fehlt. Ein Blick in die Wahlprogramme (in der Reihenfolge der aktuellen Umfragewerte) zeigt, dass stattdessen falsche Versprechen und alte Rezepte vorherrschen: CDU/CSU Die Unionsparteien setzen vor allem auf mehr Leistungsanreize und steuerliche Entlastung. Die Maßnahmen beziehen sich auf Steuersenkungen für Haushalte und Unternehmen, auf eine Reform des Bürgergelds und eine Flexibilisierung des Renteneintritts. Zwei Prozent Wachstum verspricht die CDU. Bei einem derzeitigen Potenzialwachstum der deutschen Volkswirtschaft von deutlich unter einem Prozent ist das eine kühne Annahme. Eine Finanzierung der wachstumsfördernden Maßnahmen durch das induzierte Wachstum selbst scheint eher unrealistisch. Fazit: Vieles von dem, was die CDU verspricht, wird sie nicht einhalten können. Aber immerhin: Die Stärkung der Leistungs- und Investitionsanreize ist ein wesentliches Element der Wirtschaftswende. AfD Die AfD verspricht radikale, in einigen Punkten vordergründig auch marktwirtschaftliche Wege zur Stärkung der Wirtschaft. Sie sind jedoch mit für die deutsche Wirtschaft höchst gefährlichen Folgen verbunden. Die Abschottung gegenüber Zuwanderung sowie die angekündigten Austritte aus der EU und dem Euro würden erheblichen Schaden für die deutsche Wirtschaft bedeuten, insbesondere für den deutschen Mittelstand, der auf Fachkräfte und internationale Märkte in Zukunft elementar angewiesen ist. Das versprochene Rentenniveau von 70 Prozent ist eine Luftnummer. Fazit: Es gibt nichts Richtiges im Falschen. Die Folgen der AfD wären aufgrund der nationalistischen Ausrichtung von großem wirtschaftlichem Schaden für Deutschland. SPD Die SPD setzt voll auf das Thema soziale Sicherheit: mehr netto für fast alle, sichere Renten, höherer Mindestlohn. So wichtig das Thema auch und gerade jetzt, in den großen Umbrüchen und Krisen, auch ist: Alles das wird nicht finanzierbar sein, wenn es nicht gelingt, das Wachstum zu stärken. Die Finanzierung der sozialpolitischen Versprechen beruht wesentlich auf stärkerer Umverteilung und höherer Verschuldung. Eine stärkere Belastung höherer Einkommen und Vermögen sowie eine Lockerung der Schuldenbremse sind die wesentlichen Instrumente. Damit sollen auch (europarechtlich problematische) Investitionsanreize („Made-in-Germany-Bonus“) im Rahmen des Deutschlandfonds finanziert werden. Wie man aber zu mehr Wachstum kommen will, bleibt unklar. Fazit: Die SPD setzt auf sozialdemokratische Themen. Doch das reicht nicht. Der Zeitenwende-Kanzler sollte auch den Mut zu Zeitenwende-Politik haben. Die Grünen Die Grünen versprechen eine transformative Wirtschaftspolitik. Im Zentrum des Programms stehen neben Umverteilungsmaßnahmen daher vor allem industriepolitische Maßnahmen. Doch das Versprechen eines grünen Wirtschaftswunders ist und bleibt unrealistisch. Ohne Wachstum wird die Transformation nicht finanzierbar sein. Dafür müssen die Grünen ihre Wirtschaftspolitik und speziell ihre Klima- und Energiepolitik deutlich pragmatischer ausrichten. Fazit: So berechtigt die Ziele der Grünen sind, mit Subventionen und Verboten ist keine Wirtschaft und auch kein Staat zu machen. Vieles wirkt noch unausgegoren, Habecks Vorschlag zur Erhebung von Sozialbeiträgen auf Kapitaleinkommen. Immerhin haben die Grünen – anders als die meisten anderen – den Mut, sich vor der Zukunft (Klima, Ukraine) nicht wegzuducken. FDP Die FDP hat, das muss man ihr zugutehalten, als erste Partei der Ampel-Regierung die notwendige Wirtschaftswende klar ausgesprochen. Ihr Wahlprogramm weist klassisch liberale Konzepte auf. Das ist in weiten Teilen auch richtig: Steuerliche Investitionsanreize für Unternehmen und die Entlastung von Einkommen der Haushalte sowie die generelle Stärkung des Marktes u.a. durch Bürokratieabbau sind wesentliche Bausteine der Wirtschaftswende. Und doch: Die FDP bleibt auf dem anderen Auge der Wirtschaftspolitik blind. Ihre Politik hat recht einseitige Verteilungswirkungen. Sie spricht gerne von Leistungsträgern, meint aber oft Besserverdiener. In der Transformationspolitik setzt die FDP auf Technologieoffenheit und Innovation. Fazit: Die FDP setzt voll auf ihre vier bis sechs Prozent Stammwähler. Schade, weil gerade jetzt mehr ginge, wenn man den Mut hätte, den politischen Liberalismus für die Zeitenwende neu zu denken. BSW Das BSW setzt auf eine krude Mischung aus linker, liberaler und nationalkonservativer Wirtschaftspolitik. Es setzt sich vordergründig für deutsche Arbeitnehmer und Unternehmen ein, beruft sich dabei sogar auf Ludwig Ehrhard. Der außenpolitische Kurs dieser Wirtschaftspolitik hätte jedoch verheerende Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft. Die russlandfreundliche Politik würde Deutschland in die Isolation und Abhängigkeit führen, nicht zu freiem und sozial gerechtem Wohlstand. Fazit: Vordergründig mag sich das BSW für eine marktwirtschaftliche Wirtschaftspolitik und deutsche Wirtschaftsinteressen einsetzen. Doch die Wirtschaftspolitik des BSW gründet auf einer für Deutschland höchst gefährlichen Außenpolitik. Die Linken Eine „solidarische und inklusive Gesellschaft“ ist das Leitbild der Wirtschaftspolitik der Linken. Renten, Mieten, Mindestlohn und Mobilitätsangebote sind die wesentlichen Themen. Der einzige Hebel, das alles auch zu finanzieren, ist eine Umverteilung, die alle Leistungs- und Investitionsanreize kappt. Mit einer digital- und klimagerechten Gesellschaft hätte die Linke zwar durchaus progressive Ansatzpunkte, aber die Wirtschaftspolitik bleibt klassisch sozialistisch. Fazit: Echte Lösungen finden sich bei der Linken nicht. Die Wohlstandsillusion droht in eine gefährliche Verlustangst umzuschlagen Insgesamt sind die wirtschaftspolitischen Programme der Parteien enttäuschend. Die Antworten, die sie zu geben versuchen, stehen in keinem Verhältnis zu den gewaltigen Herausforderungen, es mangelt ihnen an konkreten Konzepten und mutigen Visionen – Europa kommt mal wieder nur als Lippenbekenntnis vor. Und die vorgeschlagenen Maßnahmen stehen unter einem sehr starken Finanzierungs- und somit Umsetzungsvorbehalt. Die mit den unehrlichen Versprechungen aller Parteien drohenden Enttäuschungen würden bei der übernächsten Wahl nur den extremen Rändern nützen. Die bequeme Wohlstandsillusion droht in eine gefährliche Verlustangst umzuschlagen. Die demokratischen Parteien müssen Antworten geben, sonst tun es bald die Falschen. Von einer ordnungspolitischen Erneuerung der Wirtschaftspolitik und einer attraktiven Zukunftsvision findet sich in den Wahlprogrammen wenig. Dabei gründet die Soziale Marktwirtschaft auf einer wunderbaren Annahme: Menschen sind bereit, sich für eine bessere Zukunft anzustrengen, aber sie wollen, dass es leistungs-, lasten- und chancengerecht zugeht.