Tuesday, October 15, 2024
Steinbrück fordert Deutsche zu mehr Arbeit auf – und kritisiert Merkel
WELT
Steinbrück fordert Deutsche zu mehr Arbeit auf – und kritisiert Merkel
8 Std. • 3 Minuten Lesezeit
32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich geht nicht: Ex-Finanzminister Peer Steinbrück sieht die Deutschen in der Pflicht, wieder mehr zu arbeiten, wenn das hohe Niveau an Sozialleistungen bestehen bleiben solle. Altkanzlerin Angela Merkel habe es den Deutschen zu bequem gemacht.
Es sind für einen Sozialdemokraten inzwischen ungewöhnliche Worte: Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) beklagt, dass der „Leistungsbegriff“ und ein „Sinn für das Gemeinwohl“ in Deutschland ins Hintertreffen geraten seien. „Nicht wenige glauben offenbar, das hohe Niveau unseres Wohlstandes – nicht für alle, aber für die meisten – und unseres Sozialstaates sei anstrengungslos garantiert, und im Wesentlichen sei die Politik dafür umfänglich verantwortlich“, sagte Steinbrück dem „Tagesspiegel“.
In dem Interview forderte der SPD-Politiker, die Deutschen müssten insgesamt mehr arbeiten. „Nicht jeder einzelne, aber gesamtwirtschaftlich müssen wir mehr arbeiten und unsere Produktivität erhöhen. Eine 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich dürfte den Herausforderungen nicht entsprechen“. Wenn das hohe Niveau des Sozialstaates finanzierbar bleiben solle, sei „die Aktivierung von Arbeit“ nötig.
Steinbrück warf der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, die Deutschen nicht auf notwendige Veränderungen eingeschworen zu haben. Ihr Regierungsstil habe darauf abgezielt, Konflikte zu vermeiden und die Deutschen nicht aufzuschrecken. „Sie war damit die ideale Projektionsfläche für eine verbreitete Mentalität, nach der sich die Deutschen gern bequem in einer permanenten Gegenwart einrichten wollen. Dieser Haltung gab Merkel Futter“, sagte Steinbrück.
Von den für November angekündigten Memoiren Merkels erwartet Steinbrück keine Selbstkritik. „Nein, damit rechne ich nicht“, sagte er auf eine entsprechende Frage: „Das entspräche nicht ihrem Stil und Selbstverständnis, wie ihre schon sparsamen Worte zu Putin und Russlands Angriff auf die Ukraine zeigten.“
Steinbrück gegen weitere Subventionen
Weitere Subventionen wie eine „Abwrackprämie“ oder ein 1000-Euro-Bonus für arbeitswillige Bürgergeldempfänger – verspottet als sogenannte „Arsch-Hoch-Prämie“ – lehnt Steinbrück ab. „Mich stört der Aktionismus, mit dem Subventionen vorgeschlagen werden“, sagte er. „Anstatt reflexartig neue Subventionen auszurufen, mit denen strukturelle Probleme von einzelnen Industrieunternehmen oder ganzer Branchen gekittet werden sollen, sollte die Politik zunächst klären: Wie soll das wettbewerbsfähige Industriemodell Deutschlands in Zukunft aussehen?“, sagte Steinbrück: „Eine solche Strategiedebatte fehlt.“
Die Parteien des demokratischen Zentrums litten unter „einer Beschreibungsangst“, sagte der frühere NRW-Ministerpräsident. „Sie erläutern die politische und wirtschaftliche Großwetterlage und ihre Auswirkungen auf Deutschland allenfalls unzureichend. Aus Angst davor, Wähler in falsche Arme zu treiben, werden unabweisbare Herausforderungen und Strukturdefizite nicht ausreichend adressiert.“
Diese Beschreibungsangst erstrecke sich auf Themen wie „Verteidigungsfähigkeit, die Zielgenauigkeit sozialer Leistungen, eine sichere und wettbewerbsfähige Energieversorgung, den demografischen Druck auf das Sozialsystem oder die angespannten Staatsfinanzen mit absehbar zunehmenden Verteilungsproblemen“. In dieses Vakuum stießen dann, sagte Steinbrück, „Populisten mit absurden sicherheitspolitischen Vorstellungen oder der Bedienung von Trägheit, wir müssten uns nicht verändern oder gar anstrengen. Das lähmt das Land.“
„Große Koalition beste aller denkbaren Varianten“
Mit Blick auf die nächste Bundestagswahl sagte Steinbrück, er halte es für nahezu ausgeschlossen, dass Boris Pistorius statt Olaf Scholz für die SPD ins Rennen ginge. „Ich wette, dass er nicht Kanzlerkandidat der SPD wird“, sagte Steinbrück. „Einem amtierenden Bundeskanzler die Kandidatur zu verweigern – das wäre ein Novum, um nicht Hammer zu sagen.“ Steinbrück war 2013 Kanzlerkandidat der SPD, unterlag aber gegen Merkel.
Der frühere Finanzminister sprach sich für eine Große Koalition nach der Wahl aus. „Sollte sich eine Mehrheit aus SPD und der Union ergeben, hielte ich dies für die beste aller denkbaren Varianten, sofern sich eine solche Große Koalition auf eine Agenda 2030 verständigt und dem Land wieder Zuversicht und Zukunftsvertrauen gibt.“ Er sehe genügend Schnittmengen zwischen Union und SPD, um für eine starke Wirtschaft mit einer wettbewerbsfähigen Industrie, eine verteidigungsfähige Bundeswehr, einen effizienteren Sozialstaat, Klimaschutz, notwendige Zuwanderung und Anreize für eine gelingende Integration zu sorgen.
Auf die Frage, ob er nachts gut schlafen könnte, wenn der nächste Kanzler Friedrich Merz (CDU) hieße, antwortete Steinbrück: „Klar! Es schlafen ja auch Millionen von Unionswählern nach wie vor unter einem Kanzler Scholz gut. Je älter ich werde, desto weniger glaube ich, dass die Verteilung von Superhirnen und Knallchargen einseitig auf die Parteien verteilt sind.“ Es gebe allerdings „bedenkliche Ausnahmen, wo an den Rändern eine gefährliche Häufung“ festzustellen sei.