Sunday, September 24, 2023
Steigende Flüchtlingszahlen: Deutscher Migrationsstreit gefährdet EU-Asylkompromiss
Handelsblatt
Steigende Flüchtlingszahlen: Deutscher Migrationsstreit gefährdet EU-Asylkompromiss
Artikel von Klöckner, Jürgen Koch, Moritz Neuerer, Dietmar •
1 Std.
Flaggen der Europäischen Union wehen vor dem Sitz der Europäischen Kommission in Brüssel.
Die Ampelkoalition ringt um weitere Maßnahmen, irreguläre Migration zu begrenzen. In Brüssel droht derweil eine Blockade der Asylrechtsreform – ausgerechnet durch Deutschland.
Die Uneinigkeit der Ampelparteien in der Migrationspolitik gefährdet die Asylrechtsreform auf europäischer Ebene. Am Donnerstag wollen die EU-Innenminister einen weiteren Anlauf für einen Kompromiss unternehmen, der Europas Handlungsfähigkeit beweisen soll.
Doch Deutschland weigert sich gemeinsam mit Polen, Ungarn und Tschechien, einem entscheidenden Punkt zuzustimmen, nämlich der neuen EU-Krisenverordnung. Vor deren Einführung warnte Außenministerin Annalena Baerbock am Sonntag erneut.
„Statt geordneter Verfahren würde insbesondere das große Ermessen, das die aktuelle Krisenverordnung für den Krisenfall einräumt, de facto wieder Anreize für eine Weiterleitung großer Zahlen unregistrierter Flüchtlinge nach Deutschland setzen“, schrieb die Grünen-Politikern am Sonntag auf X (ehemals Twitter). „Das kann die Bundesregierung nicht verantworten.“
Die EU-Krisenverordnung, so die Sorge, könnte je nach Anwendung in den betroffenen Staaten an den EU-Außengrenzen zu mehr Abweisungen, aber auch zu mehr Durchleitungen von Flüchtlingen in Staaten wie Deutschland führen. Bisher hatte die Bundesregierung vor allem befürchtet, dass die Standards etwa bei der Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden im Fall einer Anwendung der Krisenverordnung zu sehr abgesenkt werden könnten. Nun hat Baerbock auch Bedenken, dass dann besonders viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen könnten.
Die spanische Ratspräsidentschaft versucht derzeit, die Blockade der Verordnung aufzulösen und die Tschechen aus der gemeinsamen Front mit Ungarn und Polen zu lösen. Sollte Tschechien allerdings bei einem Nein bleiben, würde der Druck auf die Bundesregierung steigen, der Krisenverordnung doch noch zuzustimmen. Ansonsten würde der seit Jahren von Berlin geforderte europäische Asylkompromiss ausgerechnet an Deutschland scheitern.
Und scheitert die Reform, droht die Quittung bei den Europawahlen im kommenden Jahr. In Brüssel wächst die Sorge vor starken Stimmenzuwächsen für rechtspopulistische, EU-skeptische Parteien, wenn die unkontrollierte Migration nicht eingeschränkt wird.
Innerhalb der Koalition wächst deswegen der Druck insbesondere auf die Grünen. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai nannte die Partei beispielsweise „ein Sicherheitsrisiko für das Land“. Sie erschwerten durch „realitätsferne Positionen konsequentes Regierungshandeln und parteiübergreifende Lösungen“, sagte er. Hier müsse dringend ein Umdenken stattfinden.
Derweil stellte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mögliche zusätzliche Maßnahmen im Ringen um eine Begrenzung der irregulären Migration in Aussicht. „Das sind sehr viele, die nach Europa und nach Deutschland kommen, und die Zahl hat dramatisch zugenommen“, sagte er am Samstag in Nürnberg.
Debatte um Grenzkontrollen
Scholz bekannte sich zum Grundrecht auf Asyl, mahnte aber auch effektivere Abschiebungen an. Er forderte Aufklärung über Unregelmäßigkeiten bei Visavergaben in Polen und fügte hinzu, man werde je nach aktueller Lage „an den Grenzen möglicherweise weitere Maßnahmen ergreifen müssen, zum Beispiel an dieser“. CDU-Chef Friedrich Merz forderte Scholz auf, hierzu gemeinsam mit der Union eine Lösung zu suchen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stellte ebenfalls weitere Maßnahmen in Aussicht. Auf die Frage, ob es an der polnischen und tschechischen Grenze kurzfristige stationäre Grenzkontrollen geben werde, sagte sie der „Welt am Sonntag“: „Aus meiner Sicht ist das eine Möglichkeit, Schleuserkriminalität härter zu bekämpfen.“
Laut Innenministerium werden zusätzliche grenzpolizeiliche Maßnahmen derzeit geprüft. Faeser sagte zugleich: „Man sollte aber nicht suggerieren, dass keine Asylbewerber mehr kommen, sobald es stationäre Grenzkontrollen gibt.“ Wenn eine Person an der Grenze um Asyl bitte, müsse der Asylantrag in Deutschland geprüft werden. Entscheidend bleibe also der Schutz der EU-Außengrenzen.
Der Präsident des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), Dirk Jandura, lehnte stationäre Kontrollen an den Grenzen zu Polen und Tschechien hingegen ab. „Der Groß- und Außenhandel lebt vom freien Warenverkehr, zusätzliche Hemmnisse sind kontraproduktiv“, sagte Jandura dem Handelsblatt.
Er erinnerte daran, dass durch das seit diesem Jahr geltende Lieferkettengesetz der Handel für mittelständische Unternehmen bereits jetzt schon zunehmend erschwert werde. „Lange Lkw-Staus an den Grenzen wären ein Albtraum für die Lieferkette“, warnte Jandura. „Diese führen zu temporären Lieferengpässen und steigenden Kosten, die letztendlich an den Verbraucher weitergegeben würden.“
Aus Ländern und Kommunen kamen zuletzt zunehmende Warnungen vor einer Überlastung. Bis Ende August registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mehr als 204.000 Erstanträge auf Asyl, ein Plus von 77 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.