Monday, September 25, 2023
Schweigt, ihr Alten, jetzt sind wir dran!»: Boomer sind keine Realität, sondern das Feindbild einer selbstgerechten Jugend
Neue Zürcher Zeitung Deutschland«
Schweigt, ihr Alten, jetzt sind wir dran!»: Boomer sind keine Realität, sondern das Feindbild einer selbstgerechten Jugend
Artikel von Thomas
Ribi •
1 Tag(e)
Niemand will ein Boomer sein. Vielleicht liegt darin das Problem dieser Generation.
Ich bin kein Boomer. Auch wenn meine Kinder das manchmal behaupten. Zum Beispiel dann, wenn ich ein E-Ticket ausdrucke. Für den Fall, dass der Akku meines Handys plötzlich leer sein sollte. Wenn ich ein Selfie von schräg oben mache statt locker aus Augenhöhe. Oder wenn ich sage: «Das habe ich auf Facebook gesehen.» Selfies, Facebook: typische Boomer-Dinge. Unmöglich.
Wenn ich die, die mich als Boomer bezeichnen, frage, was für Boomer charakteristisch sei, verliert sich die Antwort im Ungefähren. Vielleicht liegt das an der Frage. Es sei doch klar, was ein Boomer sei, sagen die, die keine sind. Und so genau wollen sie es gar nicht wissen. Auch das macht Boomer in den Augen aller anderen so uncool: dass sie meinen, man müsse allem auf den Grund gehen. Dass sie immer überlegen sein wollen. Dass sie sich so grosse Mühe geben, cool zu sein. Und nicht wahrhaben wollen, dass sie Boomer sind.
Niemand will ein Boomer sein. Dabei kann man sie recht genau definieren. Babyboomer sind Menschen, die so zwischen 1946 und 1964 geboren sind. Zwischen Weltkriegsende und Pillenknick. Die Generation von Aufbau, Wirtschaftswunder und neuem Wohlstand, die sich daran gewöhnt hat, dass alles immer aufwärtsgeht, wenn man nur bereit ist, genug zu arbeiten. Und daraus den Schluss zog: Wer’s nicht schafft, ist selber schuld.
Boomer sind die, die es geschafft haben. Und stolz darauf sind, dass sie es geschafft haben. Mit viel Arbeit. Mit noch mehr Arbeit. Das hiess mehr Erfolg, mehr Geld, mehr Auto, mehr Ferien. Man gehörte zur ersten Generation, die unbekümmert um die Welt jettete, lernte einen guten von einem mittelmässigen Chianti unterscheiden und pflegte einen erlesenen Kunstgeschmack: Godard, James Joyce, Madonna. Heute fährt man mit dem SUV durch die Innenstadt, macht Kreuzfahrten und ist in den Augen der Jungen ein Ärgernis.
Schweig, jetzt bin ich dran!
Boomer gibt’s schon lange. Aber das Boomer-Bashing begann 2019. Damals stellte die neuseeländische Parlamentarierin Chloë Swarbrick einen älteren Ratskollegen, der sie mit einem abschätzig belehrenden Zwischenruf unterbrochen hatte, bloss, indem sie ihm zwei Worte entgegenschleuderte: «O. k., Boomer!» Schweig, hiess das, jetzt bin ich dran! Und nimm dir nicht mehr heraus, als was dir zusteht. Nur weil du älter bist und meinst, zu wissen, wie die Welt läuft.
Das sass. Die Szene ging in den sozialen Netzwerken viral. Und die zwei Worte wurden zum Programm einer Art von Revolte: die Digital Natives der Generation Z gegen die Fünfzig-, Sechzigjährigen, die an den Schaltstellen der Macht sassen, in den Augen der Jungen träg geworden waren und kein Gespür dafür hatten, dass die Zeit über sie hinwegzog. Auf Tiktok und Instagram waren bald Hunderte von Videos zu sehen, in denen junge Menschen unter dem Hashtag #okayboomer auf despektierliches Verhalten gegenüber ihrer Generation reagierten.
Das ist lange her, aber das Schlagwort hat sich gehalten. Der damit verbundene Vorwurf auch. Boomer machen Sprüche, bei denen der Generation zwischen zwanzig und dreissig das Gähnen kommt. «No pain, no gain», zum Beispiel. Oder sie vertreten Ansichten, die in ihren Kindern Wut aufkochen lassen: dass die Umweltprobleme womöglich doch nicht ganz so ausweglos seien, wie sie dargestellt werden. Dass Gendern und veganes Essen die Welt nicht retteten. Oder dass man nicht immer gleich Sturm laufen solle, sondern einfach mal besser zuhören.
Wem denn zuhören?, fragen die Millennials und die durch «Fridays for Future» politisierte Generation Z. Denen, die die Welt dahin gebracht haben, wo sie heute steht? An den Rand einer Klimakatastrophe, in eine Wirtschaftskrise, wie man sie nicht mehr für möglich gehalten hätte, und in eine Weltordnung, die eine Neuauflage des überwunden geglaubten Kalten Kriegs ist? Sollen sie denen zuhören, die jahrzehntelang gelebt haben, als ob es kein Morgen gäbe, obwohl sie es in der Hand gehabt hätten, die Weichen für eine bessere Zukunft zu stellen?
Ende der Freundschaft
Das ist ungerecht? Selbstverständlich, und falsch ist es auch. Ganz so einfach ist es ja nicht, eine bessere Welt zu schaffen. Und in den vergangenen dreissig, vierzig Jahren ist nicht nur CO2 in die Luft geblasen worden. Es ist viel geschehen, was selbst hartgesottene Skeptiker als Fortschritt anerkennen müssten, und das ist das Verdienst der unter Generalverdacht gestellten Alten.
Man muss dabei nicht nur an technische Gadgets denken, ohne die die Digital Natives der Klimajugend gar nicht mehr existieren könnten: Handys, Internet, WLAN. Sondern an politische und gesellschaftliche Errungenschaften. Armut, Hunger, Krankheiten, Analphabetismus, Rechte von Minderheiten: In allen Bereichen hat sich die Situation weltweit verbessert. Dass es Rückschläge gibt, zugegeben. Dass uns die Klimakrise vor noch nie da gewesene Probleme stellt, dass der Ukraine-Krieg eine Katastrophe ist – ja, leider.
Nur zeigt sich in der Anklage «Warum habt ihr das nicht verhindert!» das naive Vertrauen einer wohlstandsverwöhnten Generation, die mit dem Anspruch aufgewachsen ist, dass immer alles funktioniert. Wenn es nicht mehr funktioniert, wird es ersetzt. Aus der Pauschalkritik an den Boomern spricht zudem die Überzeugung: Es gibt für alles einen Schuldigen.
Die Boomer werden älter, die Probleme bleiben. Die «New York Times» hat kürzlich das Ende der Freundschaft zwischen den Generationen ausgerufen. Wieder einmal. Nun steht nicht mehr der Boomer unter Anklage, sondern die Generation X. Also die zwischen Mitte sechziger Jahre und 1980 Geborenen. Der Vorwurf ist der gleiche. Klimakrise, soziale Ungleichheit, Krieg: lauter Probleme, die die Alten der nächsten Generation überlassen.
«Niemand hasst mich mehr als ich»
Weil sie sie nicht ernst genug nahmen, sagen die Jungen. Die Alten seien unfähig, aber gäben der nachfolgenden Generation keine Gelegenheit, die Probleme selbst zu lösen. Weil auch die Generation X, die jetzt am Drücker sitzt, das Gefühl habe, alles besser zu wissen. Vielleicht noch mehr als die Boomer. «Boomer sind sich bewusst, dass nicht viel los ist mit ihnen», zitiert die «New York Times» eine junge Frau: «Generation X hält sich für cool, obwohl sie schwächelt.»
Auch das hatten wir schon mal. Richtiger wird es dadurch nicht. Die Alten fliegen weniger oft als die Jungen, das zeigen Umfragen. Was Abfalltrennen, Glasrecyceln und Altpapiersammeln betrifft, macht ihnen niemand so rasch etwas vor. Und was Selbstvorwürfe angeht, erst recht nicht. Die Mittfünfziger von heute wissen, dass ihre Bilanz durchzogen ist. «Niemand hasst mich dafür mehr als ich selbst», sagen laut «New York Times» viele der neuen Alten.
Sie hätten mehr von sich erwartet. Das, was sie sich von den Jungen heute anhören, haben sie denen, die damals alt waren, selbst vorgeworfen. Den Alten, die geprägt waren von Nachkriegswirren, Kennedy-Mord und Erdölschock. Ihnen wollten sie zeigen, dass es noch etwas anderes gibt als Gaspedal und Maximalrenditen.
Nicht nur die klimabewegten Jugendlichen von heute, auch die Boomer und der Generation Z Angehörenden kennen existenzielle Ängste: Golfkrieg, Tschernobyl, Tankerkatastrophen, die Terroranschläge von 9/11 haben ihr Vertrauen in die Zukunft erschüttert. Sie hatten die gleichen Träume wie die Klimajugend. Und erinnern sich noch, wie sie sich geschworen haben, diese nie zu verraten.
Wahrscheinlich haben die Boomer recht: Es gibt sie nicht. So wenig wie die Generation X. Doch sie sind das ideale Feindbild für eine Generation, die in ihrer Selbstgerechtigkeit nicht merkt, wie ähnlich sie ihnen ist. Nicht nur weil die Jungen die gleichen Sneakers tragen, die gleiche Musik hören und die gleichen Netflix-Serien anschauen wie die Alten. Nicht nur weil beide die smarte Verbindung von Protest und Selbstvermarktung verkörpern.
Sondern weil sie im Grunde vereint sind in der Enttäuschung über eine Welt, die Visionen misstraut. Und über eine Politik, die sich mit dem zufriedengibt, «was man machen kann», statt das Unmögliche wenigstens zu versuchen. Nur haben die Alten den Jungen etwas voraus: Sie wissen, dass grosse Entwürfe die Menschheit zu oft ins Elend gestürzt haben, als dass sie Vertrauen verdienten. Um die Welt zu verändern, braucht es mehr als Wut im Bauch.