Sunday, September 24, 2023

Kommentar zum Warschauer Visaskandal: Polen ist jetzt Einwanderungsland

Frankfurter Allgemeine Zeitung Kommentar zum Warschauer Visaskandal: Polen ist jetzt Einwanderungsland Artikel von Gerhard Gnauck • 23 Std. Der polnische Ministerpräsident Morawiecki auf einer Veranstaltung im September Als Oppositionsführer Donald Tusk der polnischen Regierung im Frühsommer vorwarf, zu viele Arbeitsmigranten nach Polen zu holen, wirkte das wie ein kühner Wahlkampfsalto. Ausgerechnet die rechte Regierung unter Mateusz Morawiecki, die jede Umverteilung von Migranten durch Brüssel vehement ablehnt, soll klammheimlich und womöglich widerrechtlich Migranten ins Land geschafft haben? Waren die größten Kritiker der Elche am Ende also selber welche? Heute, drei Wochen vor Ende eines dramatischen Wahlkampfs, ist klar: Tusk hat eine Lawine losgetreten. Er spricht von 250.000 Arbeitsvisa, die seit dem Jahr 2021 vor allem in Osteuropa und in Asien ausgestellt wurden. Das geschah über Vermittlerfirmen, durch Druck von Arbeitgebern und beschleunigt durch Schmiergeld. Kaum ein Prozent davon sind Schengen-Visa. Solche würden es den Personen erlauben, zum Beispiel nach Deutschland zu reisen, und Schengen-Mehrfachvisa ermöglichen es sogar, bis nach Mexiko zu gelangen. Die Regierung ist hochnervös Die polnische Regierung reagierte hochnervös. Sie entließ den für konsularische Angelegenheiten zuständigen Außen-Staatssekretär Piotr Wawrzyk. Er soll sich im Krankenhaus befinden, gerüchteweise nach einem Suizidversuch. Weitere Personen im Ministerium wurden entlassen oder in Haft genommen. Drei Wochen vor der Parlamentswahl am 15. Oktober steht die regierende PiS unter großem Druck. Ihre Bemühungen um äußere, innere und soziale Sicherheit, die sie in den Umfragen mit etwa 35 Prozent der Stimmen immer noch zur stärksten Partei machen, werden gefährlich konterkariert. Das Ausmaß der Affäre ist immer noch nicht klar. Sind die als Bollywood-Schauspieler ausgegebenen Inder mit Schengen-Visa die Spitze eines großen Eisbergs der Korruption? Oder sind „einige Hundert Fälle“, in denen seit Längerem Polens Staatsanwaltschaft ermittelt, eine kleine Spitze ohne Eisberg? Als einer der wenigen scheint der Warschauer Migrationsforscher und bekannte PiS-Kritiker Maciej Duszczyk einen kühlen Kopf zu bewahren. Er warnte in dieser Woche davor, fehlerhafte oder beschleunigte Visumvergabe für dringend erbetene Arbeitskräfte mit illegalen korrupten Praktiken, bei denen Geld geflossen ist, gleichzusetzen. Im Übrigen sei Polen gerade dabei, von einem Aus- zu einem Einwanderungsland zu werden. Es sei sehr zu hoffen, dass dabei die Fehler Frankreichs oder Deutschlands vermieden werden könnten. Gegenhalten mit Lampedusa Vor Jahren hatte die PiS angekündigt, „integrationsfreudige“ Migranten zu bevorzugen. Daher wurden Inder, Türken, Vietnamesen, Filipinos, Zen­tralasiaten geholt, während die größten Ausländergruppen im Land seit vielen Jahren Ukrainer und Belarussen sind. Besser vernehmbar als Duszczyk ist in diesen Tagen aber die kriegerische Rhetorik des Wahlkampfs. Während die liberalen Medien über den Visumskandal berichten, beschäftigt sich das staatsnahe Fernsehen TVP intensiv mit der Lage auf Lampedusa. Dass das Migrationsthema den Wahlausgang beeinflusst, ist wahrscheinlich. Bei regelmäßig etwa vierzig Prozent Nichtwählern im Land ist aber schwer zu sagen, welche Koalition am Ende möglich sein wird. Wie dem auch sei: In die Zwickmühle, Arbeitskräftemangel zu überwinden und zugleich Migranten gut zu integrieren, ist jetzt auch Polen geraten.