Wednesday, September 27, 2023

Berlin blockiert EU-Regeln für Migrationskrise

Frankfurter Allgemeine Zeitung Berlin blockiert EU-Regeln für Migrationskrise Artikel von Thomas Gutschker • 1 Std. Warten auf Weiterfahrt: Migranten im September auf Lampedusa In höchsten Tönen lobte Bundeskanzler Olaf Scholz den Kompromiss zur EU-Asylreform. „Das ist eine historische Einigung, weil sie zeigt, dass die EU ihre Differenzen auch bei den kontroversesten Themen überwinden kann“, sagte er im Juni im Bundestag. Nun aber droht das Werk zu scheitern – und zwar ausgerechnet an der Bundesregierung. Denn ein wichtiges Element fehlt noch: eine Regelung für den Fall einer krisenhaften Zuspitzung wie 2015, wenn ein Mitgliedstaat von Migranten überlaufen wird und dies das gesamte europäische Asylsystem bedroht. Und die hängt an Deutschland. Die „Verordnung für Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl“ ist einer von zehn Rechtstexten, die im Zuge der Asylreform geändert werden müssen. Acht Texte sind in den sogenannten Trilogen, also den Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat der Mitgliedstaaten und der EU-Kommission. Die Gesetzgeber haben sich darauf verständigt, dass es einen Deal nur im Paket geben kann. Das Parlament hat seine Position zum Krisenmechanismus schon Ende März festgelegt. Seitdem wartet es auf die Positionierung des Rats, damit endlich Verhandlungen darüber beginnen können. Am vorigen Mittwoch zogen die Abgeordneten die Daumenschrauben an: Sie setzten ihrerseits die Verhandlungen über zwei andere Rechtstexte aus: die Verordnungen zum Screening von Asylbewerbern an der Außengrenze und zu deren Registrierung in der Eurodac-Datenbank. Die einzelnen Gesetzesvorhaben hingen nun einmal zusammen, hieß es zur Begründung. Wenn man sie nicht parallel verhandle, könne man auch nicht zu einer ausgewogenen Lösung kommen. Trivial war das nicht: Den Unterhändlern läuft nämlich die Zeit davon. Wenn ein Deal noch vor der Europawahl verabschiedet werden soll, müssen die Verhandlungen bis Jahresende, allerspätestens aber bis Anfang Februar abgeschlossen sein. Das ist sehr wenig Zeit. Die deutsche Option stand auch im Gesetzentwurf Die ersten, die vom Schritt des Parlaments erfuhren, waren die Botschafter der Mitgliedstaaten. Gemäß einem internen Protokoll der Sitzung, das der F.A.Z. vorliegt, sprach die Kommission von einer „besorgniserregenden Lage“. Der spanische Botschafter, der dem Gremium vorsitzt, warnte dass es nur „ein schmales Zeitfenster“ gebe, um die Ratsposition festzulegen, „nicht Wochen, sondern Tage“. Im Prinzip wäre eine Entscheidung an diesem Donnerstag möglich, wenn sich die EU-Innenminister in Brüssel treffen. Doch da steht das Thema nur als Informationspunkt auf der Tagesordnung; es ist nicht einmal eine politische Debatte vorgesehen. Wichtige Staaten monierten das, sie werden sich trotzdem zu Wort melden. Der Elefant im Raum schwieg jedoch: Deutschland. Schon Ende Juli hatte die Bundesregierung eine gemeinsame Festlegung des Rates verhindert. Seinerzeit stimmten die Ungarn, Polen, Tschechen und Österreicher gegen den von der spanischen Ratspräsidentschaft vorgelegten Textentwurf – weil er ihnen nicht hart genug war. Die Slowakei und die Niederlande enthielten sich unter Hinweis auf bevorstehende Wahlen. Damit hing die notwendige qualifizierte Mehrheit an einer deutschen Zustimmung. Doch Berlin enthielt sich, weil die Schutzstandards zu stark abgesenkt würden. Das war schon beim Asylkompromiss im Juni die größte Besorgnis der Regierung gewesen, und sie war erst in letzter Minute über ihren Schatten gesprungen. Mit der Krisenverordnung kehrt nun all das zurück. Denn der Grundgedanke einer solchen Regelung besteht darin, dass die Mitgliedstaaten in Ausnahmefällen mehr Flexibilität benötigen. So soll es gemäß dem der F.A.Z. vorliegenden Entwurf von Ende Juli möglich sein, im Krisenfall das beschleunigte Asylverfahren an der Grenze erheblich auszuweiten. Es würde dann nicht nur für Migranten aus Ländern mit einer Schutzquote von höchstens 20 Prozent gelten, die Staaten können diese Schwelle auf 75 Prozent anheben, im Fall einer Instrumentalisierung von Migranten – wie im Fall Belarus erlebt – sogar auf alle Personen. Das haben die Osteuropäer durchgesetzt, es soll abschreckend wirken, weil die Betreffenden während des Verfahrens interniert werden können, nicht nur für 12, sondern für 20 Wochen. Die Bundesregierung hatte sich dagegen auf eine weiche Haltung verständigt. Sie will Familien mit Kindern ganz vom Grenzverfahren ausnehmen, auch im Krisenfall. Die Verfahren sollen höchstens 14 Wochen dauern. Und: Wenn besonders viele Menschen in ein Land strömen, soll das Grenzverfahren nicht erweitert, sondern stark eingeschränkt werden, auf Personen mit einer Schutzquote von höchstens 5 Prozent. Diese Option fand sogar Eingang in den spanischen Entwurf, weil das auch im Interesse der Mittelmeeranrainer liegt. Die fürchten Aufnahmezentren, die aus allen Nähten platzen. Der Vorschlag lässt also Flexibilität in beide Richtungen zu, wobei jede Entscheidung im Krisenfall vom Rat mit qualifizierter Mehrheit zu treffen wäre. Baerbock spürt den Gegenwind Das reichte der Bundesregierung aber nicht, genauer: den Grünen. Sie wollen einem insgesamt härteren Asylsystem nur zustimmen, wenn es alle möglichen Ausnahmen und höchste menschenrechtliche Standards gibt. Mit dieser Haltung hat sich Deutschland allerdings isoliert. Sogar Luxemburg, Portugal und Irland – die einzigen Verbündeten – unterstützten im Juli den spanischen Vorschlag. Seitdem hat die Ratspräsidentschaft ausgelotet, ob sie andere Staaten auf ihre Seite ziehen kann, insbesondere die Tschechische Republik. Gelungen ist ihr das nicht. Deshalb hängt immer noch alles an Berlin. Das wiederum erklärt, warum sich am Sonntag Außenministerin Annalena Baerbock mit mehreren Tweets zu Wort meldete. Migration ist zwar gar nicht ihr Thema, doch verhandelt sie bei der internen Abstimmung für die Grünen. „In Verantwortung für unsere Kommunen“ kämpfe sie für ein Asylsystem, schrieb Baerbock, „das auch im Krisenfall funktioniert statt Tür & Tor für Chaos zu öffnen“. Das „große Ermessen“, welches der Textentwurf den Mitgliedstaaten zugestehe, würde „de facto wieder Anreize für eine Weiterleitung großer Zahlen unregistrierter Flüchtlinge nach Deutschland setzen“. Das war ein neuer Zungenschlag, denn so reden jene, die eine harte Krisenverordnung wollen. Gerade die De-facto-Aussetzung von Grenzverfahren im Krisenfall würde es Migranten ja ermöglichen, nach Deutschland weiterzuziehen. Baerbock spürt offenbar den Wind, der den Grünen in den Landtagswahlkämpfen wegen ihrer Haltung zur Migration ins Gesicht weht. Im Juni hatte sie es geschafft, ihre Partei auf europäische Linie zu bringen. Und jetzt? Am Donnerstag wird Innenministerin Nancy Faeser, SPD, Deutschland in Brüssel vertreten – und den Druck der Partner zu spüren bekommen, dass Berlin sich bewegt.