Thursday, March 17, 2022
Zwischen Profit, Panik und Putin: Wie sich der Ukraine-Krieg auf den Rohstoffhandelsplatz Schweiz auswirkt
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Zwischen Profit, Panik und Putin: Wie sich der Ukraine-Krieg auf den Rohstoffhandelsplatz Schweiz auswirkt
Gerald Hosp - Vor 18 Std.
Der öffentliche Aufschrei war gross. Nachdem bekanntgeworden war, dass die Handelstochter des Energiekonzerns Shell russisches Rohöl gekauft hatte, musste das britische Unternehmen einen Rückzieher machen. Die Händler von Shell hatten den Preisunterschied am Ölmarkt für sich genutzt: Wegen der verhängten und drohenden Sanktionen war russisches Erdöl im Vergleich mit Öl zum Weltmarktpreis zeitweise um 28.50 Dollar je Fass günstiger geworden. Das Unternehmen entschuldigte sich und gelobte, kein russisches Erdöl mehr am Spotmarkt zu kaufen. Alte Verträge werden jedoch noch erfüllt.
Russisches Cluster
Der Handel mit Erdöl und Erdgas aus Russland steht wegen des russischen Angriffskriegs unter besonderer Beobachtung: Trotz den heftigen Sanktionen des Westens fliessen immer noch Hunderte Millionen Dollar täglich nach Russland, weil die EU-Staaten keinen Importstopp für russische Rohstoffe verhängt haben. Dadurch kommt das Regime von Wladimir Putin zu frischen Devisen. Dabei wird auch in Erinnerung gerufen, dass über die Schweiz im grossen Stil russische Rohstoffe gehandelt werden.
Unzählige russische Rohstoffkonzerne haben am Genfersee, in Zug oder im Tessin Ableger. Händlergiganten wie Glencore, Trafigura, Vitol, Mercuria oder Gunvor, aber auch kleinere Firmen betreiben seit Jahrzehnten Geschäfte mit einem der grössten Rohstofflieferanten der Welt. Russische Finanzinstitute wie Sberbank und Gazprombank haben Schweizer Tochterunternehmen, die teilweise in der Finanzierung des Rohstoffhandels tätig sind.
Seit einiger Zeit geistert eine Zahl durch die Medien: Rund 80 Prozent der russischen Rohstoffexporte liefen über die Schweiz. Die Zahl dürfte zu hoch gegriffen sein. Wenn die gesamten russischen Exporte von Erdöl, Erdgas, Agrargütern, Metallen und chemischen Produkten wie Dünger ins Verhältnis zum sogenannten Transithandel russischer Güter über die Schweiz gesetzt werden, kommt man eher auf 25 bis 30 statt auf 80 Prozent – als Durchschnittswert für die Jahre von 2012 bis 2018. Dabei ist es aber möglich, dass Rohstoffe aus anderen Ländern ursprünglich aus Russland kamen.
Riesige Zahlen in Bewegung
Unter den Begriff Transithandel fallen all die Handelsgeschäfte von Unternehmen mit Sitz in der Schweiz, bei denen die Ware ge- und verkauft wird, ohne dass die Güter je eine Schweizer Grenze überschreiten. Damit ist vor allem der Rohstoffhandel gemeint. Die Dimensionen sind dabei riesig. Der Transithandel ist ein wichtiger Treiber für die hohen Leistungsbilanzüberschüsse der Schweiz. Auch wenn der prozentuale Anteil der Schweiz am russischen Rohstoffexport weniger gross ist als vielfach angenommen, ist die Zahl immer noch riesig, vor allem in einer absoluten Betrachtung.
Laut der Schweizerischen Nationalbank betrug der Wert der Rohstoffe, die aus Russland gekauft und weltweit weiterverkauft werden, in den Jahren vor der Pandemie zwischen 60 und 110 Milliarden Franken. Ökonomen der Credit Suisse schätzen, dass der Rohstoffhandel mit Russland für einen Überschuss in der Schweizer Leistungsbilanz von 1 bis 2,4 Prozent der Wirtschaftsleistung gesorgt hat. Sollten nun Sanktionen gegen Russland diesen Handel verunmöglichen, würde sich der Überschuss um diese Grössenordnung verringern.
Wie gross der Schweizer Rohstoffhandelsplatz insgesamt ist, zeigt eine weitere Zahl: Der Anteil Russlands am gesamten Transithandel beträgt «nur» 10 bis 13 Prozent. In dieser Grössenordnung würden auch die Rohstoffhändler getroffen werden im Falle umfassender Sanktionen oder Gegenmassnahmen, wobei ein Teil vielleicht durch Geschäfte mit anderen Ländern ersetzt werden könnte. So weit sind wir aber noch nicht.
Ausloten der Grenzen
Der Ukraine-Krieg und die Diskussion über die Sanktionen wirbeln die Rohstoffmärkte heftig durcheinander – und damit auch das Verhalten der Rohstoffhändler. Starke Preisschwankungen sind zunächst ein gutes Umfeld für die Firmen: Die Handelsunternehmen können Preisunterschiede nutzen, solange sie die physische Ware auch liefern können.
In der Vergangenheit prägten Figuren wie Marc Rich, der Urvater der Rohwarenhändler und Gründer des Konzerns, der heute Glencore heisst, das Bild der Schweizer Rohstoffunternehmen und wie sie mit Sanktionen umgehen. Die Schweiz, der neutralen Tradition verpflichtet, beteiligte sich lange Zeit nicht einmal an Uno-Sanktionen und bot einen gewissen Schutz selbst vor dem langen Arm der Vereinigten Staaten. Das ist schon längst Geschichte. Gleichzeitig sind viele Rohstoffhändler – nicht nur diejenigen, die aus der Schweiz heraus operieren – weiterhin dazu bereit, an die Grenzen zu gehen.
Nach der Annektierung der Krim im Jahr 2014 setzten die meisten Rohstoffhändler trotz einigen Sanktionen weiterhin stark auf Russland. Sie unterstützten Energiefirmen des Kremls, die für einige internationale Konzerne zu problematisch wurden. Der staatliche Erdölkonzern Rosneft konnte sich ab 2014 nicht mehr am europäischen oder amerikanischen Kapitalmarkt refinanzieren und musste Förderprojekte in arktischen Gewässern mit ausländischen Partnern absagen.
Helfer in der Not
Glencore half dem russischen Staat vor rund sechs Jahren, an gut 10,5 Milliarden Euro zu gelangen. Zusammen mit dem katarischen Staatsfonds kaufte die in Zug beheimatete Firma einen Anteil an Rosneft. Der Genfer Rohstoffhändler Trafigura beteiligte sich vor kurzem mit 10% an Vostok Oil, dem grössten Förderprojekt von Rosneft in der Arktis. Trafigura zahlte dafür rund 7 Milliarden Euro, wobei der grösste Teil über einen Kredit einer russischen Bank finanziert wird. Auch Vitol, ein weiterer Rohstoffhändler mit Operationen in der Schweiz, beteiligte sich an Vostok Oil. Wegen der Sanktionen war der Kreis der Investoren eingeschränkt.
Die Händler haben bei diesen Transaktionen offenbar keine Sanktionsvorschriften verletzt. Um sich russische Erdöllieferungen zu sichern, sind sie aber weit gegangen. Vor wenigen Jahren oder gar Wochen war ein grosser Reputationsverlust noch wenig wahrscheinlich, und auch die Finanzierung konnte gesichert werden. Jetzt muss die Frage, wie man es mit Russland hält, neu gestellt werden.
Die internationalen Konzerne BP, Shell und Exxon Mobil haben versprochen, aus milliardenschweren Erdöl- und Erdgasprojekten in Russland auszusteigen. Diese Unternehmen hatten stets trotz manchmal widrigster Umstände an ihren Investitionen festgehalten. Gleichsam über Nacht bürdeten sich diese Firmen auf einmal milliardenschwere Verluste auf.
Und ewig lockt der Preisabschlag
Der Schweizer Rohstoffkonzern Glencore kündigte ebenso an, die nur mehr geringe Beteiligung am Staatsunternehmen Rosneft und den Anteil am Metallkonzern En+ zu überdenken. Der Rohstoffhändler Trafigura gab auch bekannt, die Optionen für die Beteiligung am riesigen Projekt Vostok Oil in der Arktis von Rosneft zu überprüfen. Gunvor distanziert sich inzwischen von einem seiner Gründer, dem Putin-Intimus Gennadi Timtschenko, und sagt zudem, dass sich das Unternehmen im Jahr 2015 von Anlagen und Vermögenswerten getrennt habe – mit Ausnahme einer Minderheitsbeteiligung an einem Erdöl-Terminal.
Ganz können die Firmen von dem russischem Erdöl aber nicht lassen. Laut Berichten der britischen Investigativ-Organisation Source Material und anderen Medien kaufen und verschiffen Unternehmen wie Glencore, Trafigura und Vitol weiterhin russisches Erdöl. Die Entrüstung darüber ist jedoch teilweise heuchlerisch, da die EU-Staaten gerade explizit den Energiehandel von den Sanktionen ausgenommen haben. Die Händler verweisen denn auch auf die Einhaltung aller Bestimmungen. Gleichzeitig wird auch angedeutet, dass vor allem alte Verträge bedient werden.
Die Verlockung ist auch wegen des Preisabschlags für russisches Erdöl gross. Dieser kommt jedoch zustande, weil sich Raffinerien nach anderen Zulieferern umschauen, Reedereien und Versicherungen vorsichtig sind und westliche Banken zum grossen Teil von Geschäften mit Russland Abstand nehmen. Die Unsicherheit über die Interpretation und die Entwicklung der Sanktionen lähmt die Transaktionen. Weil Erdöllieferungen Zeit benötigen, erhöht dies das Geschäftsrisiko. Indische und chinesische Abnehmer könnten vermehrt auftreten. Bisher waren diese aber noch zurückhaltend.
Finanzierung als Flaschenhals
Die Sanktionen verstärken den Trend von Finanzinstituten, sich aus der Handelsfinanzierung zurückzuziehen. Russische Banken, die in den vergangenen Jahren in dieses Geschäft verstärkt eingestiegen sind, werden an den Rand gedrängt. Deshalb dürfte es derzeit für Rohstoffhändler, die relativ klein sind und einen grossen Teil des Geschäfts mit Russland machen, eng werden. Die grossen Preisschwankungen dürften zudem dazu geführt haben und dazu führen, dass Rohstoffhändler mehr Finanzierungsbedarf haben. Wenn die Preise steigen, erhöht sich auch der Wert der Fracht, die finanziert werden muss.
Zudem kann die Volatilität den Effekt haben, dass die Firmen Geld nachschiessen müssen, wenn sie sich an Terminmärkten abgesichert haben. Neben dem Erdölmarkt hatte in den vergangenen Tagen auch der gestiegene Nickelpreis für Furore und wohl auch für grosse Verluste bei einigen Händlern gesorgt. Manche Akteure dürften unter enormen finanziellen Stress kommen. Die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet, dass Trafigura in Gesprächen mit Private-Equity-Gesellschaften sei, um eine zusätzliche Finanzierungsquelle anzuzapfen. Dies könnte auch geschehen, um für sich bietende Möglichkeiten in der nächsten Zeit gewappnet zu sein.
Krisen bedeuten auch Chancen, gerade für Rohstoffhändler. Sie müssen sich aber wohl mehr als in anderen Konflikten um ihren Ruf sorgen und nicht nur um ihre Geschäftsinteressen. Im jüngsten Geschäftsbericht schreibt Glencore, dass sich die Rohstoffströme wegen des Kriegs und der Sanktionen stark verändern könnten. Die Händler können einerseits Teil der Lösung sein, indem sie die Sicherheit bei der Versorgung der Welt mit notwendigen Rohstoffen erhöhen. Andererseits können sie auch ihre Reputation festigen, Profite höher als Politik einzustufen.