Wednesday, March 16, 2022

Protest gegen Krieg in der Ukraine: Marina Owsjannikowa und ihr TV-Sender

DER SPIEGEL Protest gegen Krieg in der Ukraine: Marina Owsjannikowa und ihr TV-Sender Francesco Collini - Vor 42 Min. Die russische Journalistin Marina Owsjannikowa wird seit ihrem Protest im russischen Staatsfernsehen wie eine Heldin gefeiert. Ein neuer Bericht gibt Einblicke in ihr Leben und in die Parallelwelt staatstreuer Medien in Russland. Es war eine Aktion, für die es dieser Tage enormen Mutes bedarf. Während einer Liveübertragung von Russlands Hauptnachrichtensendung am Montag tauchte plötzlich eine Frau hinter der Moderatorin auf. Sie hielt ein Plakat gegen Russlands Invasion in die Ukraine und rief lautstark »Stoppt den Krieg, kein Krieg«. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Regie hektisch zu einem anderen Bild wechselte. Doch diese wenigen Sekunden reichten, um Marina Owsjannikowa zu einer Ikone des russischen Widerstandes gegen den Krieg in der Ukraine zu machen. Die Redakteurin arbeitete selbst beim halbstaatlichen Fernsehsender »Perwy kanal« (Kanal Eins), einem der beliebtesten Russlands. Unmittelbar nach ihrer Aktion wurde sie festgenommen, über Nacht festgehalten und am folgenden Abend wegen Anstiftung zu unerlaubten Protesten zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubel (etwa 256 Euro) verurteilt und wieder freigelassen – so die Rekonstruktion in mehreren Medienberichten. Gegen sie wird jedoch weiter ermittelt, ihr droht eine langjährige Haftstrafe. Russische Oppositionelle und weite Teile der Weltöffentlichkeit feiern Owsjannikowa als Heldin (mehr über sie lesen Sie hier). Die Redakteurin hatte offenbar ihre Aktion im Vorfeld geplant und bereits ein Video aufgezeichnet, das später von einer Bürgerrechtsorganisation veröffentlicht wurde. Darin heißt es, ihr Vater sei Ukrainer, ihre Mutter Russin. Russland müsse diesen Bruderkrieg sofort beenden. Medienberichten zufolge wurde sie im ukrainischen Odessa geboren. Ein Artikel des kremlkritischen russischen Portals »Meduza« liefert nun einen Einblick in die Welt linientreuer russischer Medien, in der sich Owsjannikowa bewegte. Eine ehemalige Mitarbeiterin des Senders schildert darin, dass es bei der Belegschaft von »Perwy kanal« unterschiedlich ausgeprägte Loyalität zum russischen Staatsapparat und der Propaganda des Kremls gibt. Manche Leute arbeiteten einfach dort, weil Jobs in der Medienbranche rar seien. Wirtschaftliche Sorgen, gepaart mit Angst vor Repressalien nach einer Kündigung, hielten viele Leute davon ab, den Sender zu verlassen. Wie bedrückend die Atmosphäre offenbar ist, zeigt das Beispiel einer Paris-Korrespondentin, die inzwischen ihre Kündigung eingereicht hat. »Meine Freiheit kommt Freitag«, wird sie zitiert. Sie könne es kaum erwarten. Warum? »Ich denke, die Antwort ist offenkundig.« Westliche Berichte und Vorgaben von höherer Stelle »Meduza« zitiert eine weitere Quelle aus »Perwy kanal«. Demnach sind alle Mitarbeiter seit Beginn des Krieges nervös. »Jeder, ohne Ausnahme, weiß, dass sie lügen. Im Studio haben sie Monitore, auf denen Berichte von Reuters und AP zu sehen sind, während sie von höherer Stelle Richtlinien und geskriptete Geschichten erhalten, die völlig realitätsfern sind.« Manche Mitarbeiter seien in Panik geraten und fragten sich, warum sie Lügen verbreiteten. Owsyannikowa wollte dabei offenkundig nicht mehr mitmachen. Ihr Protest deutete sich laut »Meduza« nicht an, zu geradlinig war ihre Karriere verlaufen. Nach einem Studium an der staatlichen Universität Kuban im südrussischen Krasnodar arbeitete sie laut »Meduza« beim Regionalsender Kuban TV. Offenbar wurde sie zum Schützling des damaligen Managers des Senders, Wladimir Runow. Er sagte »Meduza« über Owsjannikowas Aktion: »Ich sehe in dem, was sie getan hat, weder Heldentum noch Mut«. Offenbar dank eines Empfehlungsschreibens von Runow setzte Owsjannikowa ihre journalistische Ausbildung an der Russischen Präsidialakademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung Anfang der Nullerjahre fort. Dank der Unterstützung ihres damaligen Mannes Igor – so rekonstruiert es »Meduza« – bekam sie dann den Job bei »Perwy kanal«. Der Artikel zeichnet das Bild einer Frau, die in Russlands Medienlandschaft gut vernetzt war. Umso überraschender war ihre Aktion am Montag. »Ich weiß nicht, was sie dazu veranlasst hat«, soll eine Quelle mit guten Verbindungen zu Owsjannikowas Arbeitgeber gesagt haben, berichtet »Meduza«. Ehemaliger Kollege dementiert Fake-Gerüchte Gerüchte aus sozialen Medien, die besagen, der Staatssender habe selbst die Aktion inszeniert, dementiert Owsjannikowas ehemaliger Kollege Igor Riskin. »Jeder kennt jeden, und ein viermal gefaltetes Plakat hereinzubringen, es dann zu entfalten und sich hinter die Nachrichtensprecherin zu stellen, ist keine große Kunst. Ich nehme an, es war zunächst nicht einmal jemand im Studio, der sie festhalten konnte«, sagte er. Nach der Rekonstruktion von »Meduza« wurde die Redakteurin erst beim Verlassen des Gebäudes festgenommen. Owsyannikowa selbst meldete sich am Mittwoch zu Wort. Nach ihrem Protest fürchte sie sich um ihre Gesundheit und um die ihrer beiden Kinder. Dennoch wolle sie Russland nicht verlassen, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Sie hoffe, Menschen in Russland würde ihre Augen aufmachen und die Staatspropaganda kritisch beobachten – damit ihr Protest nicht umsonst gewesen sei.