Wednesday, March 16, 2022
Blick aus Georgien: „Wir wissen, wie Putins Aggression aussieht“
Berliner Zeitung
Blick aus Georgien: „Wir wissen, wie Putins Aggression aussieht“
Salome Belkania - Gestern um 06:03
Als ich vor vierzehn Jahren an einem sonnigen Donnerstag im August aufwachte, war es heiß, sehr heiß. Ich war am Schwarzen Meer, hatte Ferien und wollte schwimmen gehen. Ich war schon am Strand und wollte ins Wasser springen, als die Nachricht kam. Plötzlich rannten alle in verschiedenen Richtungen, ich war verwirrt, wusste nicht was los ist.
„Die russischen Truppen sind in die Zchinwali-Region einmarschiert!“, sagte mein Vater. In Deutschland kennt man die Region unter dem Namen Südossetien. Da wussten wir, der Krieg fängt an. Er dauerte nur wenige Tage, aber es wurden Häuser, Wohnungen, Dörfer, Städte, ein ganzes Gebiet in Georgien zerstört. Mehr als 400 Menschen kamen ums Leben, die Zahl der Flüchtenden lag weit höher. Das sind Zahlen, die im Vergleich zu dem, was gerade in der Ukraine geschieht, klein klingen mögen. Aber hinter ihnen stehen Menschen, die bis heute kein Zuhause haben und um ihre Liebsten trauern.
Wir entschieden uns, sofort nach Hause, in die Hauptstadt Tbilisi zu fahren. Am nächsten Tag schon. Erst traute sich niemand, die Strecke vom Meer nach Tbilisi zu fahren, denn der Krieg fand fast unmittelbar in der Nähe der Hauptstadt statt, in einem Gebiet, durch das die Autobahn führte. Aber unser Fahrer war mutig, zum Glück, wir hatten ja sonst keine andere Option. Auf den ersten Kilometern fühlten wir uns sicher, noch würde uns keiner angreifen. Aber je näher wir dem Ziel kamen, desto größer wurde unsere Panik.
Die Straßen waren leer, alles war verlassen. Wir näherten uns dem Gebiet, in dem der Krieg stattfand, unser Atem wurde schneller. Nach einigen Stunden erreichten wir die Region, wir fuhren durch die Stadt Gori, die nur wenige Kilometer entfernt von der Zchinvali-Region ist. Die Stadt war komplett zerstört, wie in einem Film, dachte ich damals, aber gleichzeitig fühlte es sich nicht wie ein Film an. Niemand im Auto redete, die Angst war spürbar. Schließlich erreichten wir Tbilisi, wo es hieß, dass als nächstes die Hauptstadt bombardiert werden sollte. Unsere Angst wurde immer größer, jetzt hatten wir keinen sicheren Ort mehr. Erst am nächsten Tag hieß es in den Nachrichten, dass der Angriff auf die Hauptstadt durch das Eingreifen des Westens hatte verhindern werden können.
Georgien ist ein kleines Land, das im Südkaukasus liegt, zwischen Asien und Europa. Hier mischen sich Westen und Osten. Der Staat strebt an, Teil der Europäischen Union und der NATO zu werden. Hier lebt eine Bevölkerung, die seit der Unabhängigkeit des Landes nie aufgegeben hat. Es gibt eine Demokratie, die immer wieder versucht, sich einerseits am Leben zu halten und andererseits schon seit mehr als 30 Jahren gegen Russlands unmenschliches Regime kämpft.
Ich schaue mir die Fotos von toten Soldaten und Zivilisten, die Videos von zerstörten ukrainischen Städten nicht an. Ich muss mir nicht anschauen, wie Putins Aggression aussieht, ich kenne sie, ich habe sie selbst erlebt. Meine Generation in Georgien, die in den 1990er-Jahren geboren ist, hat schon drei Kriege erlebt und wir sind gerade erst dreißig geworden.
„Das ist die nahezu identische Situation wie in Georgien.” Das antwortete die georgisch-deutsche Schriftstellerin Nino Haratischwili, als ihr bei der Präsentation ihres neuen Buchs „Das mangelnde Licht” eine Frage zum Krieg in der Ukraine gestellt wurde. In diesem Buch geht es unter anderem um die 1990er-Jahre und den Krieg in Georgien. Aber warum und wie ist es zu dieser „identischen Situation“ gekommen? Diese Frage habe ich mir in den letzten Tagen oft gestellt. Warum konnte der Westen diese Kriege nicht verhindern? Bei einer Talkshow der Zeitung Welt sagte Michael Roth von der SPD, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags: „Der Fehler, den wir zu verantworten haben, ist nicht 2014 gemacht worden. Der Fehler ist 2008 gemacht worden, als wir damals erlebten, dass Russland in Georgien eingezogen ist und dazu beigetragen hat, dass die beiden Regionen Abchasien und Südossetien sich als unabhängig erklärt haben.“
Ein Gefühl, dass nun die Ukrainer haben, kennt man in Georgien: Auch uns hat damals niemand geglaubt, dass Russland Georgien wirklich angreifen würde. Niemand wollte auf uns hören, bis es wirklich passiert ist. Ich denke an die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyjs bei der Münchner Sicherheitskonferenz kurz vor Beginn der Invasion Russlands in sein ganzes Land. In München wandte er sich mit diesen Worten an die EU: „Wir brauchen eure Sanktionen nicht mehr, wenn Bomben fallen, wenn unser Land beschossen wird, wenn wir keine Grenzen mehr haben, wenn wir keine Wirtschaft mehr haben... wozu brauchen wir dann noch diese Sanktionen?“
Der Angriff auf die Ukraine am 24. Februar hat die ganze Welt erschüttert. Diesmal war es im Winter, diesmal war es in der Ukraine und diesmal war es an einem Donnerstag im Februar. Die Ukraine liegt mitten in Europa und ist der EU und dem Gebiet der NATO viel näher als Georgien. Dementsprechend erlebt Europa den Krieg in der Ukraine anders. Die Ukraine ist nicht abstrakt, die Ukraine ist fühlbar. Die russische Aggression gegen Georgien wurde und wird leichter übersehen.
Als ich mich vor ein paar Jahren zum ersten Mal mit russischen Studenten in Berlin ausgetauscht habe, waren sie überrascht, als ich in dem Gespräch erwähnte, dass Georgien nur 3,7 Millionen Einwohner hat. „Ich dachte, ihr seid ungefähr 20 Millionen oder mehr“ meinte eine russische Studentin schockiert. „Weißt du, dass du eigentlich ein Opfer der russischen Propaganda bist?“ antwortete ich. Sie war sprachlos, sie hatte nämlich nie daran gezweifelt und nie versucht, diese Information im Internet zu überprüfen. Und so glauben viele Russen auch heute, dass Putin „seine Leute“ in der Ukraine schützt und kein Krieg stattfindet.
Russlands Krieg gegen Georgien wurde zwar 2008 offiziell beendet, aber nur für den Westen, für Russland nicht. Immer wieder werden die Grenzen in der Zchinwali-Region verschoben, mehrere Dörfer wurden in den vergangenen Jahren von der russischen Armee besetzt und viele Menschen sind ums Leben gekommen. Mittlerweile ist die sogenannte Grenze nur 400 Meter von der Autobahn entfernt, die Ostgeorgien mit Westgeorgien verbindet.
Demna Gvasalia, der Kreativdirektor des Modehauses Balenciaga, der übrigens aus Georgien kommt, hat vor ein paar Tagen während der Pariser Modewoche vor seiner Show einen Brief an die Gäste verteilt. Der Brief war sehr rührend: „Der Krieg in der Ukraine hat den Schmerz eines alten Traumas wiedererweckt, das ich seit 1993 mit mir herumgetragen habe, als das selbe in meinem Heimatland passiert ist, und ich ein ewiger Flüchtling geworden bin. Ewig, weil das etwas ist, was man nicht los wird. Die Angst, die Verzweiflung, die Erkenntnis, dass niemand dich will.“
Seit dem 24. Februar hat man in Georgien die Ruhe verloren, die Ruhe, die sowieso nie wirklich da war. Die Ängste werden wieder wach. In den letzten Tagen wurde viel darüber gesprochen, ob die Ukraine der EU beitreten sollte und wenn ja, ob es ausnahmsweise ein beschleunigtes Verfahren geben sollte. Viele meinen, dass dadurch die EU noch mehr Probleme bekommen würde. Ich glaube, Länder, die sich Demokratie und Freiheit erkämpft haben und es immer noch tun, haben eine Erfahrung gemacht, die man nicht unterschätzen sollte. Regime wie das russische leben von der Angst. Sie versuchen Menschen durch diese Angst zu lähmen, ihr Denken zu verändern. Aber mittlerweile weiß man sowohl in der Ukraine als auch in Georgien, dass wir gegen dieses Regime mit Mut und Freiheit kämpfen sollten.
Den Angriff auf die Ukraine hat die georgische Bevölkerung als Angriff auf Georgien wahrgenommen. Es werden nicht nur Ängste wach - sondern auch Wut und Empörung. Tausende Menschen haben in Tbilisi seit dem Angriff tagelang demonstriert. Das hat man in Tbilisi seit langen nicht mehr erlebt. Weder eine politische Partei noch eine NGO hat es in den letzten Jahren geschafft, so viele Menschen zu versammeln.
Die Autorin macht derzeit ihren Master in Medienwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Zuvor hat sie in Georgien Medienforschung und Journalismus studiert, als Journalistin und für verschiedene NGOs gearbeitet.
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