Tuesday, March 15, 2022

Barbara Cassin: "Identität ist ein Trick"

ZEIT ONLINE Barbara Cassin: "Identität ist ein Trick" Nils Markwardt - Vor 57 Min. Sehnsucht nach vergangener Größe vermag oft in Gewalt zu münden. Das Gefühl der Nostalgie kann aber auch zum Gegenteil führen, erklärt die Philosophin Barbara Cassin. Wir leben in Zeiten, die uns einiges Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in der Serie "Worüber denken Sie gerade nach?" führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Die Fragen stellen Andrea Böhm, Christiane Grefe, Nils Markwardt, Elisabeth von Thadden oder Lars Weisbrod. Heute antwortet die Philosophin und Philologin Barbara Cassin, die zu den renommiertesten Intellektuellen Frankreichs gehört. Auf Deutsch erschien zuletzt von ihr "Nostalgie – Wann sind wir wirklich zuhause?" (Suhrkamp, 2021). ZEIT ONLINE: Barbara Cassin, worüber denken Sie gerade nach? Barbara Cassin: Ich habe viel mit Ukrainerinnen und Ukrainern zusammengearbeitet, weil sie die ersten waren, die das dictionnaire des intraduisibles, das Wörterbuch der unübersetzbaren Wörter, übersetzt haben. Damals, vor zehn Jahren, haben wir uns gefragt, ob wir es nur ins Russische übersetzen oder ins Russische und Ukrainische. Wir haben uns dann für beide Sprachen entschieden und dabei mit demselben Herausgeber und weitestgehend denselben Übersetzerinnen gearbeitet, welche dann wiederum auch die Unterschiede zwischen den Sprachen aufgezeigt haben. Deshalb habe ich viele Freunde in der Ukraine und bin mit meinen Gedanken bei ihnen. Zudem denke ich darüber nach, wie Putin das Wort "Genozid" benutzt. Denn es ist furchtbar, wie er dessen Bedeutung umkehrt, indem er den Ukrainern vorwirft, diesen zu begehen. Barbara Cassin ist Philosophin, Altphilologin und emeritierte Forschungsdirektorin am Pariser Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Sie ist Mitglied der Académie française und erhielt 2018 mit der Goldmedaille des CNRS die höchste wissenschaftliche Auszeichnung Frankreichs. ZEIT ONLINE: Konnten Sie sich vorstellen, dass dieser Krieg tatsächlich ausbricht? Cassin: Ja, das konnte ich mir vorstellen, weil ich Ukrainerinnen kenne, die es sich wiederum vorstellen konnten. Als ich vor drei Jahren mit der Goldmedaille des Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) ausgezeichnet wurde, lud ich meine ukrainischen Freunde ein, die das Wörterbuch übersetzt hatten. Sie baten darum, im Grand Salon der Sorbonne sprechen zu dürfen. Ich musste ihnen sagen, dass dies keine politische Bühne sei, sie aber über Sprache reden könnten. Sie taten dann doch mehr als das. Und wir alle waren danach sehr verängstigt, weil man merkte, dass sie verängstigt waren. ZEIT ONLINE: Ihr Buch Nostalgie – Wann sind wir wirklich zuhause? ist jüngst in deutscher Übersetzung erschienen. Nun gilt auch Wladimir Putin als jemand, der von Nostalgie angetrieben wird. Einer imperialen Nostalgie, die mit brutaler Macht versucht, ein neozaristisches Projekt Wirklichkeit werden zu lassen. Cassin: Nostalgie meint in meinem Buch das genaue Gegenteil dieser Verbindung von Nation, Erde, Staat und Sprache. Vielmehr unterscheide ich drei Arten von Nostalgie: die von Odysseus, von Aeneas und von Hannah Arendt. Was Odysseus' Nostalgie betrifft, so wird sie in der Odyssee nicht als solche bezeichnet, denn der Begriff selbst ist relativ jung und hat dazu einen bemerkenswerten Ursprung. Er wurde im 17. Jahrhundert geprägt, um eine Krankheit zu bezeichnen, die vor allem durch Heimweh entstand. Sie betraf vor allem schweizerische Söldner von Ludwig XIV., von denen gesagt wurde, dass sie oft desertierten, wenn sie den Kuhreigen hörten. Nichtsdestotrotz war Odysseus nostalgisch, da er stets nach Hause zurückwollte. Aber sobald er dort wieder ankommt und seine Familie wieder trifft, geht er abermals fort. Er muss wieder weg – und zwar so weit wie möglich. Odysseus' Nostalgie hat also nie aufgehört. Das zeigt sich in einem Punkt besonders deutlich. Sein Bett wurzelt in einem Olivenbaum, den er mit eigenen Händen ausgehöhlt und dann sein Haus darum gebaut hat. Das ist ein sehr schönes Symbol dafür, dass Nostalgie immer Verwurzelung und Entwurzelung zugleich ist. Das wäre also das erste Modell der Nostalgie. ZEIT ONLINE: Und die anderen beiden? Cassin: Das zweite Modell ist jenes von Aeneas, der aus Troja fliehen musste und nicht mehr zurückkonnte. Deshalb musste er etwas Neues finden und seine Sprache wechseln: Er gründete anderswo neue Städte, die nicht wie Troja waren. Sowohl Odysseus als auch Aeneas haben also keine Nostalgie im Sinne eines Schmerzes über ein verlorenes Imperium. Das dritte Modell ist schließlich das von Hannah Arendt. Hier wird die Sprache von der Nation, dem Land und sogar den Menschen getrennt. Ihre Nostalgie bezieht sich nämlich allein auf die Muttersprache. Und diese ist nicht an den Raum oder die Nation eines Volkes gebunden. Die Muttersprache ist scharf vom Vaterland unterschieden. Das ist ebenfalls nicht der gleiche Typ von Nostalgie, den man bei Putin oder, man muss es so sagen, bei Hitler findet. Deren omnipotente Nostalgie war auf ein großes Imperium bezogen, das sie Wirklichkeit werden lassen wollten. Ich beschäftige mich hingegen mit einer Nostalgie des Nirgendwo, einer Nostalgie, die nicht verwurzelt und mächtig ist. Die Nostalgie, an die ich denke, gleicht vielmehr einer Irrfahrt, die stets die Frage aufwirft: Wo kann ich bleiben? Und die Antwort lautet: Heimat ist dort, wo Menschen dich willkommen heißen, deine Lebensart, deine Sprache und deine Art, die Welt zu sehen. ZEIT ONLINE: Sie beschreiben Nostalgie als etwas Leichtes, fast Abenteuerhaftes. Worin liegt dann aber die Faszination vieler Menschen für jene aggressive Form der Nostalgie, wie sie von Autokraten vertreten wird? Besteht sie darin, dass sie Menschen Orientierung und Identität gibt, dass sie einem sagt, wo man hingehört? Cassin: Identität ist ein Trick. Deshalb mag ich Hannah Arendt auch so sehr, wenn sie sagt, dass sie niemals das Gefühl hegte, zu einem Volk zu gehören, weder zum jüdischen noch zum deutschen. Stattdessen bestand sie darauf, dass sie ihrer Muttersprache angehörte. Wobei natürlich auch ein Bezug auf die Sprache gewisse Schwierigkeiten mit sich bringen kann. Denn das antike Griechenland begann gewissermaßen damit, dass der logos griechisch war – und alles andere barbarisch. Da ich drei Vornamen habe – Laure, Sylvie und Barbara –, habe ich meinen Rufnamen Barbara selbst gewählt, weil ich immer das Gefühl hatte, etwas außerhalb zu stehen. In meiner Karriere als Wissenschaftlerin war ich eigentlich nie da, wo ich hätte sein sollen. Man wird in Frankreich sehr durch das Schul- und Hochschulsystem formatiert. Als Philosophin muss man deshalb normalerweise die agrégation gemacht haben. Die hatte ich nie. Nicht, dass ich nicht wollte, aber es passte nicht zu meiner Lebensweise. Deshalb passe ich auch nicht so richtig in die Mainstream-Philosophie, die sich von Parmenides bis Heidegger erstreckt. Ich stand immer ein Stück außerhalb, mit meiner Beschäftigung mit der Psychoanalyse, der Sophistik oder dem Engagement für praktische Dinge wie der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika. ZEIT ONLINE: Hat sich das dann auch auf Ihr Denken ausgewirkt? Cassin: Meine Freunde und ich, wir versuchen uns einfach von den gängigen Verpflichtungen des Denkens zu befreien. Ich nenne das konsequenten Relativismus. Dieser bedeutet nicht, dass alles irgendwie gleich wäre. Er meint, dass man Abstand nehmen sollte von der Vorstellung einer einzelnen Wahrheit, von der Wahrheit, vom Konzept eines richtigen und eines falschen Wegs. Vielmehr sollte man sich der Idee annähern, dass es einen "richtigeren" Weg gibt, einen Weg des "besser für". Nach dem Motto: Dieses oder jenes ist "besser für" jemanden in einem spezifischen Moment. Und das ist ein Denken im Sinne von Protagoras. Denn dieser sagte: Ich kann dich nicht von der falschen zur wahren Meinung führen. Aber ich kann dir dabei helfen, in diesem Moment von einer schlechteren zu einer besseren Lebensform zu gelangen. ZEIT ONLINE: Sie erwähnten am Beginn die russische und die ukrainische Sprache. Nach der russischen Annexion der Krim wurde das Verhältnis zwischen beiden zunehmend politisch aufgeladen. In der Ukraine, wo viele Menschen im Alltag Russisch sprechen, avancierte das Sprechen von Ukrainisch zum patriotischen Statement. Wie politisch ist Sprache generell? Cassin: Sprache ist immer politisch. Wie auch immer man über die Sprache nachdenkt, so hat es eine politische Dimension. Ich arbeite beispielsweise mit an der Cité internationale de la langue française im Château de Villers-Cotterêts, einem Ort, wo der kreative und innovative Gebrauch des Französischen gefördert wird. Und es ist politisch, was wir da tun. Ebenso war es natürlich politisch, dass König Franz I. – der das Château de Villers-Cotterêts erbauen ließ – 1530 verkündete, dass Menschen die Sprache verstehen sollten, in der über sie bei Gericht geurteilt wird, also Französisch, die "Muttersprache", gesprochen werden sollte, nicht Latein. Mit Blick auf die Gegenwart gibt es keine andere Lösung als die Übersetzung. Deshalb halte ich auch den Satz Umberto Ecos, wonach die Übersetzung die Muttersprache Europas ist, für absolut richtig.