Thursday, March 17, 2022

Als in Russland noch die Zukunftsmusik spielte

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Als in Russland noch die Zukunftsmusik spielte Paul Jandl - Gestern um 05:30 Es gab Zeiten, da war der Trauermarsch die Kennmelodie der Sowjetunion. Kurz nacheinander starben die kommunistischen Partei- und Staatsführer Breschnew, Andropow und Tschernenko. Dann kam Gorbatschow, und mit der Trauer und den Märschen war es für einige Zeit vorbei. Es ist ein Kippmoment der Geschichte, über den man monumentale Romane schreiben könnte, aber das hat die in Moskau geborene deutsche Schriftstellerin Katerina Poladjan nicht getan. Sie hat ein Russland-Buch geschrieben, das zur Gegenwart des Ukraine-Kriegs so wenig passt, weil es vielleicht genau in diese Zeit gehört. Der Roman «Zukunftsmusik» ist ein Hoffnungs- und ein Trostbuch. Eine literarische Verteidigung der Menschlichkeit unter den besonderen Bedingungen der Macht. Es ist der 11. März 1985. Tschernenko ist tot, und Gorbatschow wird die Macht übernehmen. Aus dem scheppernden Küchenradio in einer Stadt «Tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau» kommt Chopins Trauermarsch, der dritte Satz seiner zweiten Klaviersonate. Vor dem Radio ist der mit nichts als einer Unterhose bekleidete Ingenieur Matwej Alexandrowitsch bei der Morgengymnastik. Es beginnt eine Geschichte, in der Wohl und Wehe der Sowjetunion sich auf kleinstem Raum abspielen. In einer «Kommunalka», einer Gemeinschaftswohnung, deren bürgerlicher Stuck über fünf Mietparteien wacht, die zum Leben nicht viel mehr haben als ein paar Quadratmeter. In der Küche stehen fünf Tische neben fünf Herden. Jeder kocht an seinem eigenen. Es scheint folgerichtig, dass auch jede Familie ihre eigene Klobrille hat. Trauriger Punk intoniert das Kommende In Katerina Poladjans Roman geht es um die möglichst private Bewirtschaftung eines kollektiven Schicksals, und dabei hat «Zukunftsmusik» eine geradezu rührende Subversivität. Die Menschen begegnen einander mit ausgesuchter Höflichkeit. Ihre Hoffnungen behalten sie für sich. Zu Bewohnern der Kommunalka sind sie geworden, weil manche Liebe gescheitert ist. Still hockt der Professor hinter seiner Zimmertür. Auch «die Karisen» sind nie zu sehen, sondern nur an ihren Küchengerüchen zu erkennen. Bereit für warme Temperaturen? Hier findest Du stylische Bademode für jeden Bodytype Schlagendes Herz des Romans ist eine aus vier Generationen bestehende Frauenkaskade, an deren Spitze Warwara Michailowa steht. Ihrer Tochter Maria ist der Mann in Richtung Sibirien abhandengekommen. Die Enkelin Janka hat ein kleines Kind von einem nicht ganz unbekannten, aber jedenfalls unbenannten Mann. Katerina Poladjan erzählt ihren Märztag des Jahres 1985 mit Rückblenden in frühere Sommertage. Stunden am See. Janka, Andrej und Pawel. In der Gegenwart des Romans liegt noch Schnee auf dem Lenindenkmal im sogenannten Erholungspark. Jankas Nachtschicht in der Glühbirnenfabrik ist zu Ende. Später wird sich Maria in der Warteschlange vor einem Laden anstellen, weil eine Warteschlange immer bedeutet, dass es etwas gibt. Matwej Alexandrowitsch, der an die Weisheit kommunistischer Weltsicht glaubt, arbeitet am Institut Strugazki, wo eine Menschenzentrifuge sowjetische Probanden in den Fortschritt hineinkatapultiert. Am Abend beim Cognac kommt Matwej Maria näher. In der Küche stimmt sich währenddessen Jankas Freundeskreis auf seine Art von Zukunftsmusik ein: Zur Gitarre wird sehr enthusiastisch trauriger Punk gesungen. Katerina Poladjans literarische Verkleidungskomödie zeigt die Welt des altersschwachen Kommunismus ziemlich nackt. Schemenhaft bewegen sich die Figuren durch den Tag. Die Drohung, den anderen bei den Behörden wegen staatszersetzenden Verhaltens zu melden, ist zum milden Scherz geworden. Sie ist nur noch Phrase und wird in Dialogen eingesetzt, deren kurze Sätze in Wahrheit voller Empathie sind. Die Kommunalka ist wie der Kommunismus selbst. Man muss die Tatsachen von beidem aushalten. Ein Ort der verschachtelten Existenzen Poladjans kurzer Roman ist voller novellistischer Beobachtungen. Aus dem lebensgrossen Glück oder Unglück der Menschen wird allerdings etwas Grösseres: ein psychologischer Augenblick der Zeit. Es ist wie bei Tschechow, der als atmosphärisches Zitat im Roman immer mitläuft. Wie bei Tolstoi oder Gogol. Manchmal erinnern Poladjans Absurditäten des russischen Alltags auch an den grossen erzählenden Komiker Jewgeni Grischkowez oder an die Theaterstücke von Alvis Hermanis. In Katerina Poladjans Werk ist jedes Buch im Ton anders. Es sind Fingerübungen stilistischer Anverwandlung, die ihre Meisterschaft aber immer gleich mitliefern. «Zukunftsmusik» wirkt wie ein postmodernes Stück Literatur, wie eine Matrjoschka. In allem steckt noch etwas anderes. Die Gemeinschaftswohnung im Roman ist der Ort verschachtelter Existenzen. Dazu passt, dass der Ingenieur Alexandrowitsch in seinem Zimmer viele Kästchen aufbewahrt, die er penibel beschriftet: «Schnipsel aus Papier und Stoff», «Gedichte», «Vitamine», «Kabel» und «Liebe». Es ist ein Konglomerat der Ordnung, das durch Gebrauch in Unordnung gebracht werden würde. Die Ordnung gerät auch ins Wanken, wenn die Menschen auf ganz unkommunistische Weise voneinander und von sich selbst Gebrauch machen. Die alte Warwara Michailowa schleicht zum alten Kosolapij ins Zimmer. Der Professor hat sich nebenan vielleicht mit einem Schleudersitz durchs Dach des Hauses ins All geschossen. Am Ende des Romans scheint sich das Haus selbst aufzulösen. Türen, von denen man nichts wusste, öffnen sich. Wände verschieben sich, Wände fallen. Während die Posaunen des Punk schmettern, stellt sich die Frage: Wird das Haus abgerissen? Wird es renoviert? Plötzlich ist man im parabelhaften Ende eines gleichermassen realistischen wie surrealen Romans, der mit Recht auf der Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse steht. Die Öffnung der Sowjetunion, die mit dem 11. März 1985 ein erstes Datum hat, wird von Zukunftsmusik begleitet. Davon erzählt uns Katerina Poladjan. Das heutige Russland ist ein Russland der Vergangenheit. Ohne Zukunftsmusik. Wie lange sich die Tyrannei einer Gegenwirklichkeit noch halten kann, die so tut, als hätte es den 11. März 1985 nie gegeben, wird sich zeigen.