Thursday, March 17, 2022

Allheilmittel Lockdown? Jetzt steht Chinas Null-Covid-Strategie vor dem Scheitern

WELT Allheilmittel Lockdown? Jetzt steht Chinas Null-Covid-Strategie vor dem Scheitern Claudia Wanner - Vor 37 Min. Seit Sonntag steht Shenzhen still. Eines der wichtigsten Technologie- und Fertigungszentren Chinas mit dem drittgrößten Containerhafen der Welt befindet sich bis mindestens 20. März im Lockdown. Bis dahin sind die 17,5 Millionen Einwohner angewiesen zu Hause zu bleiben, Betriebe haben die Fertigung eingestellt, Busse und Bahnen fahren nicht, Restaurants bleiben geschlossen. Auch im benachbarten Dongguan, ein weiteres Produktionszentrum in der südchinesischen Provinz Guangdong mit 10,5 Millionen Einwohnern, wurde ein Lockdown ausgerufen, ebenso in der gesamten nordchinesischen Provinz Jilin. 24 Millionen Menschen sind dort betroffen. In der Wirtschaftsmetropole Shanghai gilt die Ausgangssperre bisher nur in einzelnen Stadtteilen. In den kommenden Wochen bis Anfang Mai werden aber mehr als 1000 Flüge vom örtlichen Flughafen Pudong zu anderen Zielen im Land umgeleitet. Mit den Einschränkungen reagieren die chinesischen Behörden auf einen deutlichen Anstieg der Coronavirus-Erkrankungen. Über 3500 neue Fälle wurden am Montag gemeldet, nach gut 1300 am Vortag. Verglichen mit der Anzahl der Neuerkrankungen in vielen europäischen Staaten erscheinen diese Zahlen gering. Doch Gesundheitsexperten warnen, dass die hochansteckende Omikron-Variante die Null-Covid-Strategie der Regierung an ihre Grenzen bringen könnte – mit schwerwiegenden Folgen für Lieferketten und die gesamte Weltwirtschaft. „Gerade als die Welt dachte, das Schlimmste der Pandemie sei vorüber, scheint es so, als komme sie zurück und reiße sich ein Stück aus dem Wirtschaftswachstum heraus, in dem sie erneut für Chaos in den Lieferketten sorgt“, sagte Susannah Streeter, Analystin bei Hargreaves Lansdown. Neben der Verschärfung der Lieferprobleme dürften die neuen Lockdowns in China auch die Inflationssorgen weiter verschärfen, warnte Ipek Ozkardeskaya, Analystin beim Finanzdienstleister Swissquote. Am Dienstag verlor der CSI-300-Index der größten in Shanghai und Shenzhen notierten Werten 4,6 Prozent. Der Hang-Seng-Index in Hongkong verlor fast sechs Prozent und erreichte den tiefsten Stand seit 2016. An der Börse der chinesischen Sonderverwaltungszone sind zahlreiche chinesische Unternehmen notiert. Neben den Lockdowns belastet die Märkte auch der Krieg in der Ukraine und das unklare Verhältnis Chinas zu Russland. Mehr als 30 Konzerne aus Taiwan haben mitgeteilt, dass bei ihnen die Produktion in Shenzhen für mindestens eine Woche ruht. Platinen, Halbleiter oder Touchscreens sind nur einige der Produkte, die in den kommenden Tagen nicht von den Bändern laufen können. Auch Foxconn, einer der wichtigen Lieferanten von Apple, ist betroffen. Das Unternehmen teilte aber am Mittwoch mit, dass es in Abstimmung mit den Behörden einige Arbeitsschritte wieder aufnehmen könne, bei denen Beschäftigte in „geschlossenen Kreisläufen“ arbeiten. Viele der Angestellten leben in Unterkünften direkt auf dem Produktionsgelände. In Shanghai hat die Stadtverwaltung am Dienstag mitgeteilt, dass ein vollständiger Lockdown derzeit nicht notwendig sei. Schulen wurden aber geschlossen und Veranstaltungen abgesagt. Über 100 Flüge werden aber bis Anfang Mai umgeleitet. Angesichts der durch die Pandemie deutlich ausgedünnten Flugpläne sind zuletzt rund 40 Prozent der internationalen Passagiere in der Stadt angekommen. Sie müssen nach Ankunft 14 Tage in Quarantäne, viele davon in Hotels. Diese sollen mit der Maßnahme entlastet werden. Im ganzen Land wird zudem das Angebot an Fernzügen reduziert. Vor Chinas Häfen zeigen sich die neuen Maßnahmen in zunehmenden Warteschlangen von Containerschiffen. Die wichtigsten Häfen sind zwar geöffnet und löschen Ladungen. Doch vielerorts müssen Lastwagenfahrer und Fabrikarbeiter zu Hause blieben. „Das bedeutet, dass es schwierig werden wird, Fracht zu und von den Häfen zu transportieren“, sagte Lars Jensen, Chef des Beratungsunternehmens Vespucci Maritime, der Nachrichtenagentur Reuters. „Das wird sich störend auf die Lieferkette auswirken – und damit die ohnehin vorhandene Krise der Lieferketten verlängern.“ Vor den Häfen von Shenzhen, die auf mehrere Standorte in der Metropole verteilt sind, warten derzeit 34 Schiffe auf einen Liegeplatz. Vor einem Jahr waren es im Schnitt nur sieben. Vor Qingdao warten 30 Schiffe darauf anzulegen. Das treibt die Charterkosten für Container weiter auf historische Höchststände. Laut dem Frachtmarktbetreiber Freightos kostet ein Transport von China an die Westküste der USA inzwischen rund 16.000 US-Dollar (14.585 Euro), nach Europa knapp 13.000 Dollar. In vielen Fällen haben sich die Preise damit im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie mehr als verzehnfacht. Eine große Gefahr liege darin, dass die Fallzahlen fast überall in China in die Höhe gehen, sagte Eric Feigl-Ding, Epidemiologe und Leiter der Covid-Forschung bei der US-Denkfabrik New England Complex Systems Institute. „Ich fürchte, China bewegt sich gerade auf der Schwelle, entweder gerade so die BA.2(-Omikron-)Mutante einzudämmen oder vollständig die Kontrolle zu verlieren, wie es in Hongkong passiert ist.“ Lange war es in der Sonderverwaltungszone gelungen, mit strikten Tests und der Nachverfolgung aller Kontakte von Infizierten die Covid-Situation unter Kontrolle zu halten. Diese Null-Covid-Strategie wird auch in der Volksrepublik praktiziert. Sie hat jeweils dazu geführt, dass der Austausch mit dem Rest der Welt durch lange Quarantänefristen extrem eingeschränkt wurde. Doch Hongkong hat die Omikron-Welle, die sich seit Ende Dezember ausbreitet, mit Wucht getroffen. 4355 Todesfälle hat die 7,5-Millionen-Stadt inzwischen verzeichnet, mehr als drei Viertel davon in den vergangenen zwei Wochen. Der aktuelle Sieben-Tage-Durchschnitt von 36 Todesfällen je Million Einwohner ist der höchste, der seit Ausbruch der Pandemie weltweit verzeichnet wurde. Das Gesundheitssystem der Stadt, das lange als vorbildlich galt, ist seit Wochen komplett überlastet. Inzwischen sind im Queen Elizabeth Hospital, dem größten Krankenhaus der Stadt, sämtliche Betten für die Versorgung von Covid-Patienten vorgesehen. Schon seit Wochen machen in sozialen Netzwerken Bilder die Runde von Patienten, die in Betten im Freien vor den Krankenhäusern betreut werden. Nachdem Leichenhallen an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen sind, müssen einige Krankenhäuser auf Kühlcontainer ausweichen. Nur 24 Prozent der über 80-Jährigen doppelt geimpft Es gebe keine Hinweise, dass die BA.2-Variante von Omikron, die in Hongkong grassiert, schwerer verlaufe als andere Omikron-Ausprägungen, sagte David Owens, Arzt und Mitgründer des Medizindienstleister OT&P Healthcare in der Stadt. „Die Auswirkung auf Hongkong lässt sich an drei Hauptfaktoren festmachen: Einer niedrigen natürlichen Immunität in der Bevölkerung, einer geringen Immunität als Folge von Impfungen bei den besonders Gefährdeten und einem überlasteten Gesundheitssystem.“ Nur 24 Prozent der über 80-Jährigen sind doppelt geimpft, auch in der Gruppe der 70- bis 79-Jährigen sind es nur 52 Prozent. Verschärft wird das Problem dadurch, dass von den verhältnismäßig wenigen Geimpften über zwei Drittel mit dem chinesischen Impfstoff von Sinovac gespritzt wurden. Er bietet vor allem gegen die Omikron-Variante einen geringeren Schutz als die Vakzine von BioNTech oder Moderna. Von 228 Todesfällen am Montag waren nach offiziellen Angaben 163 Personen ungeimpft, 36 hatten nur eine erste Dosis erhalten. Impfstoff ist ausreichend vorhanden. Doch angesichts der niedrigen Fallzahlen galt der Schritt vielen in der Bevölkerung lange nicht als dringend. Hinzu kommt ein grundsätzliches Misstrauen gegen die Regierung und eine Verunsicherung unter Älteren, im Falle von chronischen Krankheiten zunächst mit ihrem Arzt Rücksprache zu halten. Andere Staaten in Ost-Asien, die lange an einer Null-Covid-Strategie festgehalten haben, haben in den vergangenen Wochen ebenfalls deutliche Zuwächse bei den Erkrankungen verzeichnet. Doch in Hongkong ist die Krankheit inzwischen um 20 bis 50 Mal tödlicher als in den Nachbarstaaten. Länder wie Singapur, Neuseeland und Südkorea, die bereits seit einigen Monaten eine Öffnung der Grenzen eingeläutet haben, liegen die Impfquoten aber bei über 90 Prozent, auch in der Gruppe der Älteren. Dagegen ist die Situation in der Volksrepublik mit Hongkong vergleichbar. Nur rund die Hälfte der über 80-Jährigen sind geimpft. Verimpft wurde vor allem Sinovac. Das Zahlen der neuen Erkrankungen im Land würden sich noch im frühen Stadium eines exponentiellen Wachstums befinden, sagte Zhang Wenhong, Experte für Infektionskrankheiten an der Fudan Universität in Shanghai Anfang der Woche. China scheint mit einem deutlichen Wachstum zu rechnen. In Jilin, einer der Provinzen im Nordosten des Landes, wird derzeit rund um die Uhr ein neues Isolier-Krankenhaus mit 6.000 Betten gebaut. Binnen sechs Tagen soll es fertiggestellt sein. Risiko weiterer Rückschläge droht Der Null-Toleranz-Ansatz der Regierung stoße an seine Grenzen, sagte Yanzhong Huang vom Council on Foreign Relations. Er werde nicht nur immer kostspieliger, sondern dürfte angesichts der Ansteckungsrate der Omikron-Variante auch immer weniger bringen. Dennoch sei in den kommenden Monaten mit schärferen Maßnahmen in vielen Landesteilen zu rechnen, so Tao Wang, Chefvolkswirtin für China bei der UBS. Vor allem bei den Konsumausgaben und am Arbeitsmarkt, aber auch bei den Exporten erwartet sie daher ein gedämpftes Wachstum. Unter dem Strich hat sie ihre Wachstumserwartungen von 5,4 auf fünf Prozent reduziert – und sie warnte vor dem Risiko weiterer Rückschläge.