Saturday, August 31, 2024
«Um die Rückführung gar nicht gekümmert»: In der Migrationsdebatte wächst die Kritik an Hendrik Wüst
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
«Um die Rückführung gar nicht gekümmert»: In der Migrationsdebatte wächst die Kritik an Hendrik Wüst
Artikel von Alexander Kissler, Berlin • 4 Std. • 4 Minuten Lesezeit
Hendrik Wüst spricht in der Sondersitzung des Landtags zum Thema «In Trauer vereint und entschlossen für die Freiheit».
Fast zur gleichen Zeit am Freitagabend, als Solinger Bürger an die Opfer der tödlichen Messerattacke vor einer Woche auf ihrem Stadtfest erinnerten, stach im 70 Kilometer entfernten Siegen eine Frau mit dem Messer auf Fahrgäste in einem Bus ein. Sie waren unterwegs zum Stadtfest. Eine 32-jährige Tatverdächtige wurde festgenommen. Es gab sechs Verletzte, keine Toten. Die Polizei versichert, die Frau sei deutsche Staatsbürgerin ohne Migrationshintergrund. Hinweise auf ein terroristisches Motiv gebe es nicht.
Dennoch trägt der schlimme Vorfall dazu bei, dass in Nordrhein-Westfalen mit wachsender Lautstärke debattiert wird, wie sicher das Leben im bevölkerungsreichsten Bundesland noch ist. Soeben war ein Anstieg der Messerattacken im öffentlichen Raum um 43 Prozent binnen eines Jahres festgestellt worden. Im Zentrum der aktuellen Kritik stehen Ministerpräsident Hendrik Wüst und Integrationsministerin Josefine Paul.
Wüst appelliert an die eigene Regierung
Der Christlichdemokrat, der als Nachfolger Armin Laschets seit 2021 in der Düsseldorfer Staatskanzlei residiert, sprach am Freitag in einer Sondersitzung des Landtags. Wüst verurteilte den «barbarischen menschenverachtenden Terror» von Solingen und rief dazu auf, die Ursachen gemeinsam an der Wurzel zu fassen.
Die Bundesregierung müsse handeln und bei der «Frage der irregulären Migration endlich zu wirksamen Lösungen» kommen. In den Kommunen sei die «Schwelle der Überforderung» bei der Aufnahme von Migranten vielfach überschritten. Letztlich auch an die eigene Landesregierung richtete sich Wüsts dringlichster Appell: «Wir müssen dafür sorgen, dass Recht und Gesetz konsequent umgesetzt wird.»
Die Bundesländer sind nämlich für die Durchführung von Ausschaffungen zuständig. Nordrhein-Westfalen ist daran gescheitert, den ausreisepflichtigen Syrer ausser Landes zu schaffen, obwohl Bulgarien bereit war, ihn aufzunehmen. Insofern steht auch Wüst in jener Verantwortung, an die ihn die Oppositionsparteien SPD und AfD erinnerten.
Ihnen war Wüsts blasser Satz zu wenig, es habe bei der Überstellung des späteren Attentäters nach Bulgarien «offensichtlich Versäumnisse» gegeben. Für die SPD erklärte Fraktionschef Jochen Ott, das «Abschiebemanagement dieser Regierung» sei dysfunktional. Der Parlamentarier aus Köln wandte sich zweimal an Wüst persönlich: «Sie waren nicht in der Lage, Recht und Gesetz durchzusetzen.» Und: «Ist es nicht so, dass Sie sich in den vergangenen zwei Jahren um die Rückführung gar nicht gekümmert haben?»
Die SPD kritisiert das «Organisationschaos»
Nimmt man die Vorwürfe ernst, könnten die drei Toten von Solingen noch leben, wenn Wüst sich an die eigenen Vorgaben gehalten hätte. Stattdessen vollzog die schwarz-grüne Koalition eine asylpolitische Kehrtwende. Mit ihrem Koalitionsvertrag haben beide Parteien sich im Juni 2022 verpflichtet «eine schnelle dezentrale Unterbringung von Geflüchteten in den 5959 Kommunen» zu priorisieren. Gerade dadurch geraten die Gemeinden schneller an die von Wüst beklagte «Schwelle der Überforderung». Zugleich werden Ausschaffungen erschwert, wenn Asylmigranten nur für kurze Zeit in den «Zentralen Unterbringungseinrichtungen des Landes» wohnen.
In einem Entschliessungsantrag, von der schwarz-grünen Mehrheit im Düsseldorfer Landtag abgewiesen, beklagt die SPD «Organisationsversagen und Vollzugsdefizite in Nordrhein-Westfalen» und konstatiert: «Anders als in der grossen Mehrheit der anderen Bundesländer hat NRW die Zuständigkeiten für Rückführungen und Sicherheit auf zwei Ministerien aufgeteilt» – auf das Innenministerium von Herbert Reul und das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration von Josefine Paul.
Um das «Organisationschaos» aufzulösen, will die SPD die Zuständigkeit für Ausländerrecht und Rückkehrmanagement wieder dem Innenministerium zuschlagen. Die AfD unterstützt die Forderung. Ihr Fraktionsvorsitzender Martin Vincentz sprach im Landtag die Regierung direkt an: «Sie haben den Täter nicht abgeschoben, ihn nicht festgesetzt und nicht zur Fahndung ausgeschrieben. Sie haben lieber Meldestellen für nicht strafbare Diskriminierungen eingeführt anstatt für IS-Flaggen, so dass der spätere Täter sich völlig frei und voll versorgt in Deutschland bewegen und letztlich morden konnte.» Nordrhein-Westfalen werde immer unsicherer.
Josefine Paul zog 2010 als Queer-Aktivistin in den Landtag ein. Die Ministerin sorgte 2022 für Schlagzeilen, als sie vier Meldestellen für Vorfälle «auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze» einrichtete, um «gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit» besser dokumentieren zu können. Nun sagt sie, der Anschlag von Solingen habe «auf schmerzliche Weise offengelegt, wo es Lücken in der sicherheitspolitischen Architektur unseres Landes gibt, wenn wir die Radikalisierung von Menschen nicht mehr nachvollziehen können und wo es bei abschiebungs- und rücküberstellungsrechtlichen Fragen ebenfalls Lücken gibt, die eine gründliche und rasche Antwort benötigen.»
Der Kanzler will eine Taskforce
Rechtlich jedoch sind die Zuständigkeiten geklärt. An der Umsetzung hat es gehapert. Wenn Paul also zusichert, «alle Steine umzudrehen, um auch in unserer Landesverantwortlichkeit die Systeme weiter besser aufzustellen», muss sie sich Otts Frage gefallen lassen, warum das System bisher nicht funktionierte.
Die Massnahmen, die Paul bekanntgab, zeigen die lange Wegstrecke hin zu rechtsstaatlich gebotenem Verhalten. Ab sofort erhalten die Ausländerbehörden «Zugriff auf die An- und Abwesenheitserfassungssysteme in den Landeseinrichtungen». Damit soll das Selbstverständliche möglich gemacht werden. Vor dem Zugriff auf einen Ausreisepflichtigen soll überprüft werden können, ob sich der Gesuchte an Ort und Stelle befindet.
Zweitens wies Paul «die Einrichtungsleitungen der Zentralen Unterbringungseinrichtungen an, die Zentralen Ausländerbehörden umgehend zu informieren, wenn eine Person, die zuvor bei einer Überstellungsmassnahme nicht angetroffen werden konnte, wieder in der Einrichtung ist». Der Syrer wurde nicht ausgeschafft, weil die Beamten nach einem erfolglosen Versuch, seiner habhaft zu werden, keinen zweiten Versuch starteten. Paul, die keine persönliche Verantwortung erkennen mag, appelliert: «Lassen wir es nicht zu, dass der Terrorakt die Art unseres Zusammenlebens verändert.»
Dieser Aufruf könnte auch von Olaf Scholz stammen, der sich am Samstag im «Spiegel» zu Wort meldete. Der Kanzler lobt das eigene Tun in der Migrationspolitik und wendet sich gegen Terroristen, die «uns unsere Lebensweise verleiden» wollten. Der Staat müsse «Sicherheit gewähren, damit wir weiterhin unbeschwert feiern können». Mit dem Massnahmenpaket, auf das sich die Regierung einigte, soll der «Katalog der Straftaten» erweitert werden, «die ausschliessen, dass jemand bei uns Asyl erhalten kann». Auch gebe es bald eine «Taskforce aus Wissenschaft und Behörden», um Islamismus vorzubeugen.