Friday, December 1, 2023
Zürich ist die teuerste Stadt der Welt – weil das Optimieren hier Prinzip ist
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Zürich ist die teuerste Stadt der Welt – weil das Optimieren hier Prinzip ist
Artikel von Matthias Venetz •
23 Std.
Hochbetrieb in der Zürcher Bahnhofstrasse. Zuzüger wundern sich erst über die hohen Preise in der Stadt. Mit der Zeit aber eichen sie ihre Preisvorstellungen. Gaëtan Bally / Keystone
Zum Lunch: Eine Poké-Bowl, also eine Schüssel kalten Reis mit rohem Gemüse und Fisch oder Fleischersatz zum Mitnehmen. Auf der Anzeige leuchtet ein Preis zwischen 21 und 26 Franken auf.
Dessert: Vermicelles für 7 Franken 90.
Abends dann ein Apéro. 9 Stutz für ein Glas Weisswein.
Kaum sonst wo auf der Welt zahlt die Stadtbevölkerung so viel für ihr Essen, aber auch für die Haushaltartikel und das Freizeitvergnügen. Zürcherinnen und Zürcher würden vielleicht sagen, dass sie auch nirgends so viel für ihr Geld erhielten.
Zumindest der erste Punkt stimmt. Zürich ist laut einer neuen Studie der Economist Intelligence Unit gemeinsam mit Singapur die teuerste Stadt der Welt. Vor Paris, New York, San Francisco. Und auch vor Genf, das auf dem dritten Platz liegt.
Für die Studie haben Analysten über 400 Preise von über 200 Produkten und Dienstleistungen verglichen. 173 Städte wurden zwischen August und September analysiert. Zürich ist im Vergleich zum Vorjahr auf der Rangliste von Platz 6 auf 1 aufgestiegen. Das liegt am starken Franken und an einer komplexen Entwicklung, die seit Jahren anhält.
Aber warum funktioniert das, warum bezahlen die Leute diese Preise? Schön ist es doch auch in Winterthur oder Baden? Wer es sich leisten kann und so denkt, ist vermutlich gerade erst hergezogen und hat das Zürich-Prinzip noch nicht verinnerlicht.
Caritas-Läden für Yuppies
Dank dem Brettspiel «Monopoly» weiss jedes Kind in der Schweiz, dass die Zürcher Bahnhofstrasse das teuerste Pflaster der Schweiz ist. Die Stadt ist mehr als die Bahnhofstrasse und der Paradeplatz, könnte man einwenden.
Das stimmt, und wer mit dem Fahrrad von der Altstadt in «Frau Gerolds Garten» bei der Hardbrücke fährt, merkt, wie sehr sich die Umgebung innert weniger Minuten verändert. Von chic und nobel zu hip und urban. Von Rindsentrêcote auf Edelporzellan zu Pulled Pork in Schüsseln, die aus Palmblättern hergestellt wurden. Banker und Expats fühlen sich an beiden Orten wohl. Und sie zahlen.
Hat sich ein neuer Szenetreffpunkt entwickelt, kommt das nächste Viertel zum Zug. Bis die ganze Stadt aufgehübscht ist. So verändern sich auch die alten Arbeiterviertel Zürichs. In Oerlikon hat die Stadt in den vergangenen Jahren den Binzmühlebach aufwendig renaturiert. Er ist ein Naherholungsgebiet geworden. Als an seinen Ufern noch Arbeiterfamilien wohnten, nannten sie ihn Stinkbach. Auch die alten Industriehallen haben sich gewandelt. Wo Arbeiter früher in Industriehallen hämmerten und schraubten, haben sich längst Startups angesiedelt.
Ähnlich sieht es an der Birmensdorferstrasse im Kreis 4 aus. Hier betreibt die Caritas seit Jahren mehrere Secondhand-Läden. Früher kauften hier weniger Privilegierte. Heute sind die Läden Boutiquen für die Yuppies im restaurierten Altbau nebenan.
Natürlich braucht Zürich immer noch ein Heer aus Reinigungskräften, Handwerkern, Maurern, Pflegehilfen. Die können sich Wohnungen in diesen Quartieren oftmals nicht mehr leisten. Also ziehen sie nach Spreitenbach. In den Kanton Aargau.
Seit 2005 sind die Mieten für neu abgeschlossene Verträge in der Stadt um 39 Prozent gestiegen. Als weiteres Problem kommt hinzu, dass die Haushalte immer kleiner werden und die Nachfrage nach Wohnraum dadurch steigt. Laut einer Statistik des Kantons sind zwar auch die Löhne gestiegen, doch gerade einkommensschwächere Personen können oft nicht mitziehen.
Doch der Sog hält an.
Zürich wächst dank seinen Zuzügern
Es ziehen neue Mieterinnen und Mieter ein. Mit Masterdiplom im CV, mit innovativen Ideen in den Synapsen und vor allem mit dritter Säule auf der Steuererklärung.
Weil Zürich trotz den hohen Preisen auch für Arbeitgeber sehr attraktiv ist, gibt es ansprechende Arbeitsplätze. Die locken Zuzüger auch weiterhin. Die Stadt wächst ihretwegen. 2022 sind 44 819 Personen neu nach Zürich gezogen. Gegenüber dem Vorjahr ist das eine Steigerung von 14 Prozent. Trotz einem deutlichen Rückgang bei den Geburten wächst die Stadt wie seit Jahren nicht mehr.
Da die Zuzüger oft gute Löhne beziehen, können sie sich die Mietzinsen leisten. Die Studie der Economist Intelligence Unit zeigt zudem: Neben der Situation auf dem Immobilienmarkt ist der Dienstleistungssektor ein Preistreiber in der Stadt. Der Haarschnitt, das Fitness-Abo, das Billett für die S-Bahn: In Zürich kostet all das mehr. Die Kosten für eine ambulante medizinische Behandlung oder den Zahnarztbesuch liegen über dem Schweizer Durchschnitt.
Teurer ist all das, weil auch die Lohn- und Mietkosten für Geschäftslokale höher sind. Ein attraktiver Standort ist anziehend, hohe Preise auf dem Wohnungsmarkt bevorteilen einkommensstarke Zuzüger, und die verkraften das Preisniveau. Es ist ein Teufelskreis. So werden Zürcher Preise gemacht.
«Züri schön mache»
Das nötige Geld steht auch der Stadt zur Verfügung. Auf dem Bürkliplatz plant sie einen neuen Kiosk für 3,6 Millionen Franken. Das neue Schulhaus Saatlen in Schwamendingen kosten 231 Millionen. Die Stadt hat die Mittel dazu. 2018 betrug ihr Budget 8 Milliarden Franken. Es sind Summen wie aus einem Staatshaushalt.
Überall optimieren die Zürcher, konzeptionieren neu, setzen Visionen um. «Züri schön mache» lautet das Motto. Die Zürcherinnen und Zürcher haben im 21. Jahrhundert einen modernen Jugendstil hervorgebracht.
Leute von ausserhalb finden das oft protzig oder dekadent. Manche halten die Zürcher deswegen für überheblich. Es stimmt, Zürich ist teuer, auch für Schweizer Verhältnisse.
So denken auch viele Leute, die hierherziehen. Wenn ein Neuzürcher aus dem Thurgau, aus Graubünden, Glarus oder dem Aargau sich in der Stadt niederlässt, zuckt er beim ersten Flat White im Vicafé oder beim Erhalt der Mietabrechnung noch mit den Augenbrauen. Später wird das Zucken seltener und weicht einem «S’isch halt Züri».
Da hat der Neuzürcher, die Neuzürcherin die erste Stempelkarte schon längst beim Vicafé am Sechseläutenplatz eingelöst und seine oder ihre Preisvorstellungen geeicht.