Saturday, December 30, 2023

Die Wokeness ist am Ende

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Die Wokeness ist am Ende Artikel von Denise Bucher • 5 Std. Es ist Vielfalt, nicht Gleichförmigkeit, die eine offene Gesellschaft auszeichnet. Doch sie sollte ohne Ideologien und Dogmen auskommen. Die heutige Realität bringt die Woken in Erklärungsnot. Der neu aufgeflammte Antisemitismus und der politisch bewirtschaftete Hass seit dem Angriff der Hamas auf Israel bringt einige Vertreter dazu, das zu verraten, wofür der Begriff «woke» einmal gestanden haben mag: Achtsam zu sein gegen Diskriminierung. Einzustehen für Respekt, Toleranz und Vielfalt. Wer achtet jetzt noch auf differenzierte Sprache? ­Darauf, niemanden mit Worten zu verletzen? Stattdessen gilt es, Position zu beziehen. Es ist, als ob von den Theorien der Identitätspolitik nur noch das Grenzenziehen übrig wäre, das jetzt in ein gefährliches dualistisches Weltbild kippt: Man ist entweder für Israel oder Palästina. Dass Israel und Judentum, Hamas und Palästinenser, Islam und Islamismus nicht dasselbe sind, das wird vergessen. Der Kampf um Diversität scheint einer irritierenden Vorstellung von Reinheit gewichen zu sein. Sogenannte «woke» Anliegen scheitern jetzt am linken Antisemitismus, der sich verdrängen liess, aber jetzt hervorbricht. Die Unfähigkeit, Terror als Terror zu benennen, egal von welcher Gruppe er verübt wird, ist der Beweis für ideologische Verblendung. Gleichzeitig entlarvt die Brutalität der Gegenwart die von der anderen Seite geschürte Panik vor den Woken als ein billiges Mittel, um Politik zu machen und Klicks zu generieren. «Wenn die schweigende Mehrheit nicht mehr bereit ist, die zunehmenden Zumutungen der woken Community hinzunehmen, droht ein Bürgerkrieg.» Das schreiben Zana Ramadani und Peter Köpf in ihrem neuen Buch «Woke – Wie eine moralisierende Minderheit unsere Demokratie bedroht». Mit Moralisieren die Demokratie bedrohen? Bis zum Bürgerkrieg? Wegen einer Minderheit? Man muss lachen ob solch apokalyptischem Raunen. Ende der Waffenruhe - Israel nimmt Kampf gegen Hamas wieder auf Der Überfall der Hamas auf Israel hat das Geschrei um Wokeness nun einem Realitätscheck unterzogen. Und es zeigt sich: Sowohl Verfechter als auch Kritikerinnen der Bewegung fallen durch. Aussagen wie jene von Ramadani und Köpf klingen angesichts der realen Gefahren, denen die Demokratie ausgesetzt ist – und von denen antisemitisch motivierte Gewalt nur eine ist –, nach kalkuliertem Schüren von Hysterie. Ihr Buch soll sich innerhalb der geneigten Zielgruppe möglichst gut verkaufen. Sogar wenn man den beiden in einzelnen Punkten zustimmen möchte, so fällt dies schwer, weil ihr Ton so herablassend und die Argumentation zu stark vereinfachend ist. Das Buch beschreibt, was es selbst tut: ideologisch motivierte Grabenbildung. Aber Ideologien lassen sich nicht mit Ideologien bekämpfen. Das ist das Gegenteil von Fortschritt. Zu einer klugen Debatte tragen solche Publikationen nichts bei. Derweil stürzen die Woken in die Gräben, die sie im Lauf der letzten paar Jahre selbst ausgehoben haben. Was würde passieren, wenn heute ein Musiker mit Dreadlocks aufträte und «Free Palestine!» ins Mikrofon riefe? Wäre seine Haartracht als Ausdruck von kultureller Aneignung ein Thema, wie es im Sommer 2022 eines war? Es scheint, als ob sowohl die woke Bewegung selbst wie auch der Widerstand dagegen zu einem kollektiven Verlust von multiperspektivischem Denken geführt hätten. Wokeness ist nur noch ein Kampfbegriff, eingesetzt entweder als absolutes Credo oder ultimatives Schimpfwort. Aber je mehr zugespitzt und übertrieben wird, desto mehr höhlen beide Seiten ihre eigenen Argumente aus: Ein unangenehmes Gefühl als Trauma zu bezeichnen, entwertet dieses. Traumatisch ist vielmehr, was Opfer von Terror, Gewalttaten und Unterdrückung erleiden. Umgekehrt gibt es in westlichen Gesellschaften kein real existierendes Meinungsverbot, niemand muss bei der Verwendung des generischen Maskulinums mit Verhaftung durch die Stasi rechnen oder mit einem Abzug im Sozialkreditsystem, wie China es pflegt, um seine Bevölkerung zu kontrollieren. Es gibt vielleicht einen Shitstorm, oder man muss mit Widerrede rechnen, wo es früher noch keine gab. Aber selbst anmassende Äusserungen sind von der Meinungsfreiheit gedeckt. Das ist ein Merkmal einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft. Seit wann fühlen wir uns von anderen Meinungen nicht mehr angestachelt zur Diskussion oder bloss genervt, sondern immer gleich bedroht und hilfsbedürftig? Es ist zu einfach, zu behaupten, die Woken seien schuld, die einer Mehrheit etwas verbieten wollten. Denn damit deutet man deren Widerrede gegen herrschende Normen zu einer Regel um, der man sich zu unterwerfen habe. Statt dagegen zu argumentieren, stilisiert man sich zum Opfer. Ja, es gibt historisch gewachsene Ungleichheiten. Eine Struktur, in der die einen das Sagen haben und andere marginalisiert und diskriminiert werden. Aber zum Opfer gemacht zu werden oder sich zum Opfer zu stilisieren, ist nicht Dasselbe. Ersteres bedeutet Ohnmacht, Letzteres das Gegenteil. Wer sich zum Opfer stilisiert, gibt die Regeln vor, an welche die anderen sich zu halten haben. «Man tut mir Gewalt an», das kann ein «alter weisser Cis-Mann» genauso behaupten wie eine junge «queere Snowflake». «Wenn fanatische Ideologen ihr Weltbild nur in groben Vereinfachungen präsentieren, dann kann es nicht darum gehen, sie in Schlicht- und Grobheit zu überbieten, sondern dann braucht es Differenzierung», schreibt die Philosophin Carolin Emcke in ihrem 2016 erschienenen Buch «Gegen den Hass». Den Ausweg sieht sie in «einer Kultur des aufgeklärten Zweifels und der Ironie». Zurzeit bewegen wir uns eher in die entgegengesetzte Richtung. Was wird künftig wohl übrigbleiben vom Konstrukt der Wokeness? Wird das Wort an eine gescheiterte Debatte vom Anfang des 21. Jahrhunderts erinnern? Oder wird es mit einem gesellschaftlichen Wandel assoziiert werden, der bedeutende Veränderungen gebracht hat? Dass die Stimmen in der Kultur, der Politik, der Wissenschaft vielfältiger geworden sind, das ist eine Errungenschaft. Denn es ist Vielfalt, nicht Gleichförmigkeit, die eine offene Gesellschaft auszeichnet. Doch sie sollte ohne Ideologien und Dogmen auskommen.