Sunday, December 31, 2023

„Europäische Atombombe wäre entscheidender Schritt hin zur eigenen Abschreckungskraft“

WELT „Europäische Atombombe wäre entscheidender Schritt hin zur eigenen Abschreckungskraft“ Artikel von Jacques Schuster • 9 Std. Herfried Münkler denkt geostrategisch und fordert, Europa auf eine Abkehr der Amerikaner vorzubereiten. Der Politikwissenschaftler erklärt, warum EU-Partner sich an der deutschen „Zeitenwende“ noch stoßen werden. Den Wunsch vieler Europäer nach einer atomwaffenfreien Welt hält er für illusorisch. WELT AM SONNTAG: Herr Münkler, Silvester naht. Wer lässt am ehesten die Champagnerkorken knallen – Joe Biden, Wolodmyr Selenskyj oder Wladimir Putin? Herfried Münkler: In der Selbstwahrnehmung vermutlich Putin. Gerade in den letzten Wochen hat er deutlich kommuniziert, dass Russland in dem Abnutzungskrieg gegen die Ukraine peu à peu die Oberhand gewinnt. Selenskyj ist in einer schwierigen Situation: Nach dem Fehlschlag der Sommer-Herbst-Offensive steht er auch innenpolitisch unter Druck. Und Joe Biden hat einfach zu viele Baustellen, bei denen er nicht genau weiß, wie er vorgehen soll. Dass so jemand wie Donald Trump ernsthaft noch die Chance eines Wahlsieges hat, ist eine Eigentümlichkeit, die Biden zu denken geben wird. Kurzum, am Silvesterabend ist Putin derjenige, der sich am ehesten zufrieden den Bauch reiben wird. WELT AM SONNTAG: War es nicht von Anfang klar: Eine militärische Supermacht wie Russland lässt sich zum einen nicht durch einen Staat wie die Ukraine besiegen; zum anderen wird ein Riesenreich wie Russland nicht durch Sanktionen in die Knie gezwungen? Münkler: Es war eine Fehlkalkulation vieler im Westen zu glauben, militärische Macht könne durch wirtschaftliche Macht ersetzt werden. Außerdem tun wirtschaftliche Sanktionen dem Sanktionierenden mindestens genauso weh wie dem Sanktionierten. Was die ukrainische Offensive angeht, so muss man nüchtern einräumen: Vieles, was der Westen an Waffen und Munition versprochen hat, kam viel zu spät oder ist bis heute nicht vor Ort. Wären schon im Sommer 2022 hinreichend Munition und teilweise auch die schweren Waffen geliefert worden, also, bevor die Russen sich auf eine Zeit der strategischen Defensive eingestellt hatten, hätte die ukrainische Offensive erfolgreich sein können. Zumindest wäre die Chance groß gewesen, dass Kiew aus einer relativ starken Verhandlungsposition heraus ein entsprechendes Verhandlungsangebot an die Russen hätte unterbreiten können. Diese starke Position besitzt die Ukraine heute nicht. WELT AM SONNTAG: Trifft die Europäer eine Mitschuld an der ukrainischen Schwäche? Münkler: Die Europäer haben eklatant darin versagt, die zugesagte Munitionsmenge zu liefern. Nicht einmal die Hälfte der versprochenen Munition ist geliefert worden. Aber ihnen die Lage allein anzukreiden, wäre zu simpel. Die Ukraine verfügt im Vergleich zu Russland über begrenzte Mittel. Ihr stehen nur etwa ein Viertel der jungen Männer zur Verfügung, die Russland an die Front schicken kann. Das heißt, Kiew muss mit seiner Manpower ganz anders haushalten als der Kreml. WELT AM SONNTAG: Wenn Sie die Lage heute zusammenfassen und einen Ausblick auf 2024 geben müssen, worauf müssen wir uns mit Blick auf die Russen gefasst machen? Münkler: Putin hat auf seiner jährlichen Großpressekonferenz vor wenigen Tagen klargemacht, dass er bei seinen Maximalforderungen bleibt. Er will nach wie vor nicht nur die Demilitarisierung und „Entnazifizierung“ der Ukraine, sondern letztlich auch die vollkommene russische Kontrolle über diesen Staat. Nur unter diesen Bedingungen sind die Russen zurzeit zu einem Waffenstillstand bereit. Das aber kann er nur mit militärischen Mitteln erreichen. So wird dieser Krieg zumindest bis zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen weitergehen. Putin wird danach sehen, ob die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung der Ukraine weiter leisten. Grundsätzlich nimmt er wohl an, dass die Hilfe, die der Westen 2022, 2023 geleistet hat, allmählich schwächer wird. Dennoch würde ich voraussagen: Der Krieg wird auch im kommenden Jahr weitergehen. Jedenfalls haben die Herren im Kreml – es sind nur Herren – genug Zeit und Kapazitäten, den Krieg mithilfe kleiner, begrenzter Offensiven und Artillerieduellen weiterzuführen, mit dem Ziel, die ukrainische Armee zu ermatten und gleichzeitig der ukrainischen Infrastruktur durch Luftangriffe schweren Schaden zuzufügen, um den Durchhaltewillen der Bevölkerung zu schwächen. WELT AM SONNTAG: Wer das jüngste Buch der amerikanischen Historikerin Marie Sarotte „Keinen Schritt weiter nach Osten“ liest, dem wird klar, dass die Russen die Osterweiterung der Nato von Anfang an ablehnten, aber zu schwach waren, diese aufzuhalten. Mussten wir mit einem Krieg wie dem gegen die Ukraine rechnen, sobald Russland sich stark genug fühlte, ihn tatsächlich zu führen? Münkler: Es gab gute Gründe, davon auszugehen, dass die Russen erstens eine revisionistische Macht sind und dass sie zweitens nach den Großprotesten auf dem Kiewer Maidan 2013/14 die Aussicht für äußerst bedrohlich hielten, dass die Ukraine politisch nach Westen wandert. Ich nehme an, dass für Putin die Möglichkeit eines EU-Beitritts der Ukraine sogar bedrohlicher als ein möglicher Nato-Beitritt war. Ein wirtschaftlich prosperierender ukrainischer Rechtsstaat hätte womöglich die Maidan-Proteste auf den Roten Platz in Moskau getragen und wäre unter Umständen existenzgefährdend für den Kreml geworden. So dürfte die militärische Option früh eine Rolle in der russischen Kalkulation gespielt haben. WELT AM SONNTAG: Hätte der Westen darauf früher reagieren müssen? Münkler: Das hätte er. Es bleibt die Frage, ob die Reaktion die richtige war. Nehmen Sie die Bundesregierung. Sie hatte gehofft, mit wirtschaftlichen Mitteln Russland einzubinden. Sie hatte quasi gesagt: „Lieber Wladimir Wladimirowitsch, überlege dir, was für gute Kunden wir sind und wie viel Milliarden Euro wir dir Monat für Monat für dein Erdgas und Erdöl überweisen. Willst du dir dieses Geschäftsmodell kaputt machen?“ Was die Deutschen nicht auf dem Schirm hatten, war: Für Putin war die Bewirtschaftung von Ressentiments in der Ukraine-Frage wichtiger als die Bewirtschaftung von Wohlstandsinteressen. WELT AM SONNTAG: Hätte ein Konfrontationskurs größeren Erfolg gehabt? Münkler: Angela Merkel hat mit einigem Recht zu bedenken gegeben, dass es schon 2008 zum Krieg gekommen wäre, hätte die Nato Georgien und die Ukraine auf der damaligen Nato-Tagung in Bukarest als Mitglieder aufgenommen. Wäre die ukrainische Armee damals in der Lage gewesen, sich wirksamer als heute zu verteidigen? Wohl kaum. So mag man zwar die deutsch-französische Appeasement-Politik gegenüber Russland nach der russischen Krim-Besetzung 2014 beklagen, die sich in den Minsker Abkommen manifestierte, doch sie verschaffte Kiew Zeit, sich militärisch vor allem mithilfe der Amerikaner zu ertüchtigen. Sicher war vieles naiv an der Russland-Politik, und niemand hat ernsthaft einen Plan B erwogen, der eine massive Aufrüstung bedeutet hätte. Nur: Hätte es für diese Aufrüstung eine Mehrheit in der Bevölkerung gegeben? Wohl nicht. WELT AM SONNTAG: Teilen Sie den Eindruck, dass Berlin keinen Plan B besitzt, was bündnis- und verteidigungspolitisch getan werden muss, sollte Donald Trump wieder US-Präsident werden? Münkler: Ich glaube, zumindest Verteidigungsminister Boris Pistorius durchdenkt verschiedene Optionen. Das lässt sich aus seinen jüngsten Reden schließen. Deswegen ist er auf dem jüngsten SPD-Parteitag auch unter Feuer genommen worden. Bei den übrigen Politikern lautet der Plan B: Beten, dass Biden gewinnt. Aber einiges spricht für die deutschen Anstrengungen. WELT AM SONNTAG: Was? Münkler: Zwar werden die Europäer die amerikanischen Leistungen an die Ukraine nicht vollständig kompensieren können, dennoch muss man anerkennen: Die Deutschen leisten beeindruckend viel. Sowohl, was die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine als auch das Aufrechterhalten des ukrainischen Staatshaushaltes durch die deutsche finanzielle Hilfe angeht, ist diese Unterstützung höher als die der restlichen Europäischen Union, einschließlich Großbritanniens. Gerade Großbritannien hätte eigentlich die Verpflichtung, die Ukraine sehr viel stärker zu unterstützen. Schließlich ist das Vereinte Königreich einer der Signatarstaaten des Budapester Memorandums von 1994, in dem die Briten den Ukrainern die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen garantiert haben. Also was immer man an den Deutschen kritisieren mag, die Lernkurve, die von Christine Lambrecht zu Boris Pistorius geht, ist bemerkenswert steil. Übrigens könnte es sein, dass sich die Europäer irgendwann einmal daran stoßen werden. WELT AM SONNTAG: Wie meinen Sie das? Münkler: Irgendwann könnten die europäischen Freunde feststellen, dass die Deutschen wieder eine ausgesprochen leistungsfähige Rüstungsindustrie und eine der stärksten Armeen Europas aufgebaut haben. Bislang war es ein europäischer Konsens, dass Deutschland zwar eine starke wirtschaftliche Macht sein darf, aber keine militärische. Der Grund dafür liegt an unserem Verhalten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Über kurz oder lang könnten also Sorgen die Freude über eine Zeitenwende überwiegen. Man kann bereits jetzt wahrnehmen, dass die Franzosen die deutsche Entwicklung sehr genau beobachten. Immer wieder kommt es zu Spannungen zwischen Paris und Berlin. WELT AM SONNTAG: Wird in dem Maße, in dem sich die Amerikaner von Europa abwenden, die deutsche Frage wieder aktuell? Münkler: Die meisten Deutschen halten sich für vorbildliche Europäer. Doch die übrigen Europäer achten genau auf das deutsche Gewicht und reagieren sehr empfindlich, wenn Berlin dieses Gewicht einsetzt. Während der Finanzkrise war eine Person wie Finanzminister Wolfgang Schäuble zumindest für einige Europäer das Sinnbild des deutschen Hegemons. Ich lese gerade einen Essay der Historiker Brendan Simms und Benjamin Zeeb. Um das deutsche Gewicht einzubinden, schlagen sie die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa vor. Dieser Gedanke ist theoretisch durchaus richtig, aber politisch vorerst nicht praktikabel. So ist Deutschland als entscheidende wirtschaftliche und politische Größe durchaus ein Brocken in der Mitte Europas – bald mit einer Brigade in Litauen, heute schon mit Eurofightern in Rumänien und Patriot-Abwehrraketen in Südpolen. In den kommenden Jahren wird das militärische Gewicht noch zunehmen. Die Selbstwahrnehmung ist eben auch hier eine andere als die Außenwahrnehmung. WELT AM SONNTAG: Wenn die Amerikaner sich von Europa abwenden, dann verliert der Kontinent die nukleare Komponente seiner Abschreckung. Welche Konsequenzen sollten die Europäer daraus ziehen? Münkler: Man könnte sagen, es bleiben die britischen und französischen Atomwaffen. Aber Polen und die baltischen Staaten mit ihren historischen Erfahrungen werden vermutlich daran zweifeln, ob sie sich bei einer möglichen nuklearen Erpressung seitens Russlands auf britische und französische Versprechen verlassen können. Deswegen haben sie stets auf die USA gesetzt. Insofern spricht einiges dafür, den entscheidenden Schritt zu tun und eine wirklich europäische nukleare Abschreckungsfähigkeit aufzubauen. WELT AM SONNTAG: Was heißt das konkret? Münkler: Das heißt, die Staaten des Weimarer Dreiecks, also Frankreich, Deutschland, Polen, plus zweier Südeuropäer, also Madrid und Rom, verfügen über Atomwaffen in gemeinsamer Entscheidungsgewalt, also: Der Koffer mit dem roten Knopf zirkuliert zwischen den genannten Staaten. Die europäische Atombombe wäre ein entscheidender Schritt hin zu einer strategischen Autonomie und zu einer eigenen Abschreckungskraft. Diese Abschreckungskraft sollte schleunigst aufgebaut werden. Leider sind die Europäer Spezialisten darin, Zeitfenster zu verschlafen. WELT AM SONNTAG: Viele Europäer träumen immer noch von einer atomwaffenfreien Welt. Münkler: Das Gegenteil wird geschehen. WELT AM SONNTAG: Wie meinen Sie das? Münkler: Irgendeiner hat gesagt, Russland sei eine Tankstelle mit Atomwaffen. Das trifft genau den Punkt. Russland hat nur die Nuklearwaffen und seine Rohstoffe. Nur diese beide Potenziale geben ihm die weltpolitische Bedeutung. Allein aus diesem Grund wird der Kreml niemals auf seine Nuklearwaffen verzichten. Eine Denuklearisierung der Welt wird bis auf Weiteres nicht möglich sein. Im Gegenteil: Wir werden eine Proliferation von Nuklearwaffen erleben – vielleicht mit dem Iran als neue Atommacht. Saudi-Arabien wird dann ebenfalls nach der Atombombe streben. Genau wie die Türkei. Es spricht also vieles dafür, dass die Europäer schnell eine allein in ihrer Hand befindliche Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung erlangen.