Tuesday, December 26, 2023
„Zauber der Stille“: Florian Illies über Caspar David Friedrich
Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Zauber der Stille“: Florian Illies über Caspar David Friedrich
Artikel von Niklas Maak •
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Caspar David Friedrich (1774–1840), „Auf dem Segler“, um 1819
So sieht ein Aufbruch aus: Ein Mann und eine Frau sitzen auf einem Boot, der Wind fährt in die Segel, aus dem Dunst, als sei sie vielleicht auch nur eine Fata Morgana, taucht schemenhaft eine Stadt auf. Ob die beiden ergriffen sind von der Leere und dem warmen, goldleuchtenden Sommerlicht, kann man schwer sagen; jedenfalls ergreift er ihre Hand oder sie seine.
Man kann zu diesem Bild, das um 1819 entstand, einiges sagen – zum Beispiel dass sich Caspar David Friedrich hier beim Malen vermutlich an eine Bootstour erinnerte, die er ein paar Monate nach seiner Hochzeit mit der 19 Jahre jüngeren Caroline Bommer im August 1818 machte; damals segelte das Paar von Rügen nach Stralsund.
Als Friedrich im Alter von 44 Jahren dieses Bild in Erinnerung eines glücklichen Moments zwischen Sandbänken und Seehunden, Gischt und Möwen malte, galt er schon als einer der rätselhaftesten und düstersten Künstler der deutschen Romantik. Dieser Ruf verdankte sich vor allem jenen Gemälden, die der 1774 in Greifswald geborene Künstler zehn Jahre zuvor gemalt hatte und die ihre Spuren in der Geschichte der Kunst hinterließen: Die Stimmung in seiner „Abtei im Eichwald“ ist düsterer als das meiste, was damals in Europa auf Leinwände gebracht wurde.
Man sieht einen Klosterfriedhof im Winter; zwischen abgefackelt aussehenden Eichen, deren Äste gekappt wurden, erhebt sich die Ruine eines gotischen Chores. Ein paar Mönche sind zu erkennen und ein offenes Grab, alles befindet sich in einem End- und Zerfallszustand, die Bäume sehen nicht aus, als ob sie je wieder ausschlagen würden, selbst der schmutzig bräunliche Himmel sieht eher aus wie die Ruine des Himmels nach dem Ende der Welt.
Caspar David Friedrich, „Wanderer über dem Nebelmeer“, um 1818
Die Reaktionen auf solche Totalverfinsterungen fielen unterschiedlich aus. Einige unter Friedrichs Zeitgenossen empfanden einen wohligen Grusel. Der mit Friedrich befreundete malende Gynäkologe Carl Gustav Carus, der seinerzeit vor allem ein bedeutender Mediziner war, heute aber als Künstler bekannt ist, schrieb, dass „Friedrich in seinen Landschaftstragödien in weiter wüster Ebene durch ein paar Granitblöcke, dürftiges Gestrüpp und aufgehenden Mond, oder durch ein einsames Meeresufer mit darüber ziehenden Wolken den ganzen Ernst des Lebens zur Erscheinung brachte“.
Fahles Morgenlicht und wild verfärbter Abendhimmel
Florian Illies eröffnet in seinem Buch „Zauber der Stille“ eine neue Sicht auf das Werk von Caspar David Friedrich.
Tragödien und der Ernst des Lebens: Damit war der Ton gesetzt, in dem seither über Friedrich geredet wurde. Dass der Maler gern dramatische Dämmerstimmungen, das fahle Morgenlicht oder den wild verfärbten Abendhimmel malte, wie man ihn sonst nur von Claude Lorrain kennt, bestärkte die Interpreten darin, in ihm einen gefährdeten Romantiker zu sehen, der sich den Schatten- und Nachtseiten des Lebens widmete und bei dem die wilde, erhabene Natur eine Gegenwelt zur einsetzenden rationalistischen Entzauberung der Welt durch die beginnende Industrialisierung und die Maschinenmoderne mit ihren Dampfmaschinen und rauchenden Schloten wird.
Caspar David Friedrich (1774–1840) „Selbstbildnis mit aufgestütztem Arm“, um 1802
Berichte über das dunkle, gereizte Wesen von Friedrich und über traumatische Kindheitserfahrungen – die Mutter starb früh, der jüngere Bruder ertrank bei einem gemeinsamen Ausflug – wurden als weitere Beweise dafür herangezogen, dass man es bei dem Maler mit einem Melancholiker zu tun habe, der sich vor den Menschen und der Moderne in den Trost der Religion und die Einsamkeit von düsteren Naturbildern flüchtete – Seelenlandschaften, in denen schematische Rückenfiguren (Friedrich konnte, wie kein Biograph vergisst zu erwähnen, leider keine Menschen von vorn malen) in altdeutschen Kostümen wie Zombies in idealisierten deutschen Landschaften herumstehen und den Untergang der alten Welt und ihrer Werte betrauern.
Caspar David Friedrich, „Kreidefelsen auf Rügen“, 1818
Aber ob es etwa bei Friedrichs berühmtem „Mönch am Meer“ nun „düster“ zugeht oder nur stürmisch, ist Interpretationssache. Auf jeden Fall ist das Bild auf eine derart revolutionäre Weise leer, dass Kleist beim Anschauen befand, es fühle sich an, als seien einem „die Augenlider weggeschnitten“. Wären da nicht der leichte Schwung der Dünen im Vordergrund, die Schaumkronen auf dem aufgewühlten Meer und die kleine Mönchsfigur, könnte man das Gemälde, das eigentlich nur aus drei Streifen von Sand, Meer und Himmel besteht, für abstrakte Farbfeldmalerei des 20. Jahrhunderts halten.
Das Nichtwesentliche ist weggeblasen
Die mühseligen Details, an denen Friedrichs Malerkollegen sich festmalten, Kopfsteinpflaster, Ladenschilder, Kutschenräder, Kordeln und Mundwinkel, waren nicht Friedrichs Sache. Seine Bilder sind offener und freier, als wehte in ihnen ein stärkerer Wind: Alles Nichtwesentliche ist weggeblasen, nur wenige zerzauste, überraschte Dinge bleiben übrig.
Um formale Traditionen kümmerte Friedrich sich wenig. Sein frühes Gemälde für den Tetschener Altar von 1808, mit dem er berühmt wurde, zeigt einen Berg im Anschnitt, Sonnenstrahlen schießen hinter Tannen hervor, das Kreuz steht verdreht wie eine dürre Fußnote im Licht – das Drama der Natur ist der eigentliche Gegenstand des Altarbilds. Nicht das Anekdotische, sondern die Stimmung ist wichtig, nicht das Idyll, sondern das Erhabene, „le grand large“, wie das bei den Franzosen heißt, die der Maler als Anti-Napoleonist nicht besonders schätzte; nicht sklavische Abbildung der Realität, sondern die Wiedergabe der Essenz. Friedrich will keine realistischen Wolkenformationen zeigen, sondern das Luftige und Dunstige an sich, nicht den Baum, sondern das Knorrige selbst.
Jede Generation erfindet den Friedrich, den sie braucht
Darin kann man die Modernität seiner Gemälde sehen – und in ihrer Deutungsoffenheit, im interpretationsabweisenden Zwielicht der Bilder. Genau damit konnten viele seiner Zeitgenossen nichts anfangen. Der Sammler und Kunsthistoriker Sulpiz Boisserée beschreibt in seinem Tagebuch, wie Goethe darüber, dass „die Bilder von Maler Friedrich ebenso gut auf dem Kopf gesehen werden“ könnten, so in Wut geraten sei, dass er sich zum „Zerschlagen der Bilder an der Tischecke“ habe hinreißen lassen.
Die „Zeitung für die elegante Welt“ klagte, bei Friedrich erscheine Natur nur „verdunkelt und vernebelt“. Nebel und Winter seien zurzeit „leider in Verschiss“ gekommen, notierte Friedrich achselzuckend in einem Brief, aber bald würden von den Kunstkritikern bestimmt auch Sommer und Frühling attackiert werden, dann passe es wieder. Es dauerte dann aber doch noch bis Ende des 19. Jahrhunderts, dass Friedrich wiederentdeckt wurde. Seitdem erfindet sich jede Generation den Friedrich, den sie gerade brauchen kann.
Die Beschwörung eines alten Deutschlands, gotischer Ruinen und riesiger Eichen verleitete die Nationalsozialisten dazu, Friedrich als Maler einer nationalen Erneuerung zu feiern. Psychologen schleiften Friedrichs Motive so lange durchs Dickicht ihrer Assoziationen, bis sie wie der Ausdruck einer kranken, bedrohten Seele dastanden.
Fragwürdige Psychologisierungen
Ein besonders fragwürdiger Wikipedia-Eintrag spekuliert unter der Rubrik „Friedrichs Pathographie“ darüber, ob seine Kunst Ausdruck einer psychischen Erkrankung sei. Friedrichs „infantile Verhaltensweisen“ und „Schwierigkeiten im Smalltalk“ sprächen außerdem für „Autismus und Asperger-Syndrom“, hält Wikipedia fest, die zwei Männer mit einer Frau am Kreidefelsen seien Ausdruck einer gespaltenen Persönlichkeit – so wird munter weiterpsychopathologisiert.
In den fortschrittskritischen Siebzigerjahren machte eine Generation, die Adornos „Dialektik der Aufklärung“ im Gepäck hatte, aus Friedrich einen Maler, der sich den verdrängten Schattenseiten der Moderne widmete. Und im großen Friedrich-Jahr 2024 (neben der schon eröffneten Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle zeigt Berlins Alte Nationalgalerie ab dem 19. April Friedrichs Naturmalerei, es folgt Dresdens Galerie Neue Meister ab dem 24. August mit einer Schau über die Dresdner Anfänge) wird sicherlich jemand auf die Idee kommen, Friedrichs Aktualität darin zu erkennen, dass er zum Beginn der ressourcenintensiven Verbrennermoderne schon den Preis erkannte, den Natur und Menschen für die Ausbeutung des Planeten zahlen müssen: verwüstete Landschaften und verwüstete Seelen, tote Bäume, zerschellte Schiffe, Klimakatastrophen aller Art, die Apokalypsen des Anthropozäns.
Aber was über Friedrich geschrieben wurde, verrät meist mehr über die Autoren und die Obsessionen und Ängste und Idealvorstellungen ihrer Zeit als über Friedrichs Kunst selbst. Von kaum einem anderen Werk muss ein so dicker Interpretations-Firnis abgenommen werden, um die Kunst überhaupt wieder sehen zu können. Sicher kann man in vielen Werken eine melancholische Grundstimmung erkennen, aber gebrochene Farben sind noch kein Beweis für gebrochene Menschen.
Klischeebild des selbstzerstörerischen Romantikers
Und vielleicht ist es kein Zufall, dass Florian Illies für sein Buch über Friedrich („Zauber der Stille“, Fischer Verlag, 252 Seiten) als Titelmotiv genau jenes Gemälde gewählt hat, das am wenigsten ins Klischeebild des selbstzerstörerischen Romantikers passt, nämlich „Auf dem Segler“ von 1819. Illies verfolgt unter anderem das Schicksal dieses Gemäldes – vor allem aber erschließt er das Werk und Leben des Maler überraschend neu. Was lllies gelingt, ist eine Vergegenwärtigung der Geschichte durch kurze, blitzlichtartige literarische Anekdoten, in denen man wie mit einer Handkamera durch das Haus von Friedrich, aufs Boot und dann direkt in die Bilder hineingeführt wird.
Illies erzählt, wie Walt Disney 1935 nach München reist, wo er „nicht weniger als 149 Bildbände und illustrierte Bücher“ kauft, darunter einige über Friedrich, und wie dann Disneys „Bambi“ durch Friedrichs „Felsenschlucht“ läuft; Hollywood bringt Friedrichs Gefühl auf noch größere Leinwände. Zuvor war die Buchvorlage des jüdischen Autors Felix Salten für den Film von den Nazis verbrannt worden; als Disneys „Bambi“ 1942 in die Kinos kommt, gehört Adolf Hitler zu den Ersten, die ihn in Europa sehen: „Er schaut Bambis Flucht vor dem Feuer inmitten des Krieges in seinem privaten Kino auf dem Berghof an und ist gerührt.“
Der Kanarienvogelzüchter Friedrich und die Vögel
Illies ermöglicht einen neuen Blick auf Friedrich über die Seiteneingänge des Werks, etwa über die Rolle der Vögel, die dem Kanarienvogelzüchter Friedrich auch als Motiv wichtig waren. Wann bringen Möwen die Dynamik des Windes ins Bild, wann sitzt ein Adler als deutsches Symbol dort? Wie bei einem pointillistischen Gemälde baut sich aus den Einzelpunkten der von Illies beschriebenen Szenen, Anekdoten und Beobachtungen ein Gesamtbild zusammen, das flirrender, lebendiger (und darin Friedrich angemessener) ist als alle Versuche, ihn per Indizienbeweiskette in eine hermeneutische Parklücke zu bugsieren.
Das, was Illies generell an Malerei schätzt, gelingt ihm in diesem Buch auf erzählerischer Ebene – das Skizzenhafte, die Lebendigkeit eines Malgestus, der die Energie des Windes, die er darstellen will, über den Pinsel rasant auf die Leinwand leitet, statt sie in peniblen fotorealistischen Rekonstruktionen zu verlieren.
Vergleich mit Edward Hopper
Ein Vergleich drängt sich auf: der mit Edward Hopper. Immer wieder wurde erklärt, Hopper zeige in seinen Gemälden die Melancholie des vereinsamten Großstadtmenschen. Aber wer sagt, dass die „Nighthawks“ an der erleuchteten Bar nicht heilfroh sind, der Enge ihres Dorfs entkommen zu sein, wer sagt, dass die allein auf einem Bett sitzende Frau in „Morning Sun“, die immer als Bild schmerzhafter Einsamkeit herhalten muss, nicht gerade eine wunderbare Nacht mit jemandem verbracht hat, der gerade um die Ecke im Badezimmer ist?
Roland Barthes hat einmal über die „Idiorrhythmie“ geschrieben, die Kunst, sich einen Raum und einen Rhythmus für das Selbst-Sein zu schaffen. Ähnlich kann man bei Friedrich fragen, ob das Repertoire seiner Bilder immer nur als Ausdruck von Trauer ausgelegt werden muss – oder ob die Personen, die da allein über dem Nebelmeer oder an endlosen Stränden mit Blick auf tobende Meere stehen, nicht auch als Verkörperungen eines solchen Selbst-Seins gelesen werden könnten, die angesichts der gigantischen Naturschauspiele mit zumindest unbestimmten, nämlich entweder mulmigen oder aber auch euphorischen Gefühlen die eigene Unbeschränktheit erfahren: die Geburt des Selbst-Denkers als Gegenfigur zum Mitläufer.
Friedrich war keinesfalls nur ein Maler der Melancholie. Er hatte einen oft völlig übersehenen Humor. „Über Friedrichs Mund“, schreibt sein Freund Gotthilf von Schubert, „schwebte immer ein leichter Zug des Scherzes.“ Ganze drei Monate, schreibt Friedrich einmal einer Freundin, habe sich „der Eisbär, dessen Sie sich so gütig erinnern, an der Küste der Ostsee herumgetrieben und sich öfter in die grünlichen Fluten getaucht und hat gesehen wie Seehunde ihr nasses Haupt aus den Wellen erheben“. Vielleicht muss man sich den Maler des „Mönchs am Meer“ auch als heiteren Mann im Meer vorstellen.