Wednesday, December 6, 2023

Kein Happy End für die Demokratie

ZEIT-ONLINE "Demokratiedämmerung" von Veith Selk : Kein Happy End für die Demokratie Ungleich verteiltes politisches Wissen, könnte man einwenden, gehört zur Diversity einer Regenbogengesellschaft nun einmal dazu. Auch hier schüttet Selk Wasser in den Wein. Für ihn wird die "Gesellschaft der Singularitäten" dann zum Problem, wenn sich die Selbstbestimmungsansprüche der Bürgerinnen und Bürger radikalisieren und ein hoch individualisierter Eigensinn zum "normativen Erfordernis" für soziale Anerkennung wird. In diesem Fall gerate Diversity zum Hindernis für die Demokratie. Die extreme Pluralität von Lebensentwürfen lasse Solidaritäts- und Gemeinschaftspflichten in den Hintergrund treten und erschwere die Bekämpfung von Ungleichheit. Auch die vernachlässigte Integration von Zuwanderern belastet aus Selks Sicht die soziale Homogenität. Indem Migranten zu Menschen zweiter Klasse erklärt werden, würden sie markiert und zur Zielscheibe von Hetzern und Brandstiftern gemacht. Rechte Fanatiker steigern den Eindruck von Chaos und Unregierbarkeit – und machen Reklame für eine Retrodemokratie, aus der die angeblich wurzellosen kosmopolitischen Eliten vertrieben sind und das Leben wieder so übersichtlich ist, wie es nie war. Ist für Selk die "partizipatorische Revolte" der Achtundsechziger schuld an der Demokratiekrise? Richtig ist, dass sie eine soziokulturell überfällige Veränderung in Gang setzten; linke Rebellen haben eine stickig-autoritäre Gesellschaft politisiert und Freiheitsspielräume erweitert. Andererseits, meint Selk, sei die "Politisierung des Alltagslebens" durchaus zwiespältig. Einmal, weil der Partizipationsschub die finanziell und bildungsmäßig Bessergestellten begünstigt; zum anderen, weil die Politisierung inzwischen bis "in den letzten Winkel des Privaten" vorgedrungen sei. Auch das Unkontroverse werde heute in den Strudel des Konflikts gezogen; eingespielte Üblichkeiten, stabilisierende Traditionsbestände, ja sogar gemeinwohlorientierte Motive seien strittig geworden. Auch in den grundlegenden Fragen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, glaubt Selk, bröckelt der Grundkonsens. Zugleich werde von der Regierung erwartet, dass sie trotz sinkendem Einverständnis über kontroverse Materien kohärent entscheidet. Die Benzinpreise sollen sofort gesenkt und zugleich die Erderwärmung unverzüglich gestoppt werden. Wenn das scheitert, heißt es sofort: "Alles ist politisch geworden, aber nichts wird mehr gut regiert." Mit einem Wort: Wachsende Komplexität, zunehmende Differenzierung und chronische Politisierung fördern nicht die Demokratie, sondern blockieren sie. Zur Belastung wird dies für Selk in dem Moment, wo sich die Bürgerschaft in Anerkennungskämpfen zerfleischt, ohne auf eine belastbare Wir-Identität zurückgreifen zu können. Anders als bei Verteilungskonflikten könne der Streit um Werte und Identitäten nämlich nicht durch Kompromisse geschlichtet werden, und auch das sei Wasser auf die Mühlen rechter Parteien. Penetrant beklagen sie die Politisierung der Gesellschaft, um im selben Atemzug den Kulturkampf weiter voranzutreiben. Rechte Agitatoren stellen die Unabhängigkeit der Justiz infrage, und selbst gewöhnliche "politische Verfahren verlieren nun den Status als neutrale Agenden von demokratischem Fair Play". Selk sieht sich bestätigt. Politisierung bedeutet nicht zwangsläufig mehr demokratische Legitimität. 47 Millionen Amerikaner glauben, Trump sei ihr rechtmäßiger Präsident. Und 21 Millionen halten den Einsatz von Gewalt für gerechtfertigt, um ihn ins Amt zu bringen. Mediale Anarchie Von der "Politisierung" ist es nur ein kleiner Schritt zur "demokratischen Öffentlichkeit", einem unverzichtbaren Baustein im Legokasten der liberalen Theorie. Auch hier ist Selks Einschätzung ebenso glasklar wie düster: Nach ihrer Digitalisierung ist die Öffentlichkeit nicht länger ein Resonanzraum der Demokratie, sondern eine Dunkelkammer aus Manipulation, Misstrauen, Täuschung, Lüge und Ignoranz. Mit der digitalen Revolution entstand zunächst eine Laienpublizistik mit unzähligen Teil- und Gegenöffentlichkeiten. Sie erweitern den Meinungsrahmen – und unterlaufen zugleich die Filter- und Gate-Keeper-Funktion der klassischen Massenmedien. Von den verbliebenen "Qualitätsmedien", meint Selk, dürfe man sich nicht täuschen lassen. Die Algorithmen der Techkonzerne stimulierten fast flächendeckend ein unversöhnliches Weltgefühl; ihr Geschäftsmodell sei auf Entzweiung ausgerichtet, auf die Bewirtschaftung von Feindschaft und Hass. Auch der Einsatz von Deep-Fake-Technologie durch weltweite Polarisierungsunternehmer erschüttere das Vertrauen in die öffentliche Kommunikation. Warum Selk so ausgiebig die Misere der Öffentlichkeit beschreibt, liegt auf der Hand. Ohne eine intakte Öffentlichkeit, glaubt er, würden die gängigen Demokratiemodelle "unplausibel", selbst die ausgefeilte und enorm voraussetzungsvolle Theorie von Jürgen Habermas. Sie sei elementar auf eine konsonante Öffentlichkeit angewiesen, auf die ständige Rückkoppelung von Regierungshandeln mit der Bürgerschaft. Doch in einer strukturell feindseligen, von Weltbildgräben durchzogenen Mediensphäre sei es nicht einmal mehr möglich, einen Konsens über Dissens herzustellen, geschweige denn ein kollektives Wir. Doch wenn es Medien nicht mehr gelinge, Themen zu bündeln, sie zu verdichten und den Streit der Meinungen zu fokussieren, "dann fällt ein rationalisierender Faktor der Politik" aus. Klar, dass die nationalen Rechte jede Gelegenheit nutzt, um die mediale Anarchie weiter anzuheizen und die Öffentlichkeit mit Bullshit zu fluten. Zugleich verspricht sie, im Fall einer Machtübernahme das Meinungschaos zu beenden und die schöne vorpolitische Harmonie des seligen Volkes wiederherzustellen. Max Weber hat den Kapitalismus einmal als die "schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens" bezeichnet. Gleichwohl war es den westlichen Demokratien gelungen, ihn wohlfahrtsstaatlich abzufedern und in die "erfolgreichste politökonomische Befriedungsinstitution" der Nachkriegszeit zu verwandeln. Diese Ära, glaubt Selk, ist passé. Der "historische Kompromiss zwischen Kapitalkumulation und Sozialpolitik zerbricht", und die Verbindung aus Massendemokratie und Wirtschaft löse sich unterm Druck einer weitgehend ungesteuerten Globalisierung wieder auf. Nachdem Konzerne sich vom Nationalstaat "emanzipiert haben", können sie ihren "Bestrafungsmechanismus" ungestört ausspielen; sollten ihnen politische Entscheidungen missfallen, verweigern sie Investitionen oder verlagern ihre Betriebe ins Ausland. Zwar seien die Staaten nicht völlig machtlos, aber nachdem sie in der neoliberalen Ära ihre Steuerungsinstrumente voreilig aus der Hand gegeben hätten, sei ihre Fähigkeit zu "demokratischer Machtpolitik" nachhaltig geschwächt. 39 Kommentare Meine KommentareHighlightsNeusteÄlteste ? Was denken Sie? I Inana76 vor 4 Minuten Die Thematik ist gar nicht so neu und wurde auch schon Anfang der 2000er von Colin-Crouch mit der "Post-Demokratie" beschrieben. In den supranationalen Institutionen heute verliert die Demokratie immer mehr an Substanz. Dinge werden nicht mehr in den Gesellschaften ausgehandelt, sondern meistens auf supranationaler Ebene - seien es EU, NATO, OECD, UNO oder auch "Davos" zwischen verschiedenen Eliten aus Wirtschaft, Politik und Sicherheit ausgehandelt - und dann als fertig geschnürtes Kompromisspaket "alternativlos" in den Gesellschaften durchgesetzt. Ernst genommen hat ihn übrigens nicht. Vielleicht sieht man jetzt eben auch die Folgen davon. Antwort schreiben Avatarbild von cpmarret cpmarret vor 5 Minuten Dass ein globaelr Faschimus kommwn wird war schon vor 20 Jahren klar. Dass der Demokratie das Ende angesagt wird ist auch klar. Es wird der Wähler sein der uns dahin führen wird. ob er aus Unwissenheit, Falschinformationen Rechts wählt ist Nebensache, Es wird seine Verantwurtung sein so gewählt zu haben, Nun sollten wir einml durchdenken ob es ein Zurück geben wird. Ich glaube nicht. Die Tehnologie ist zu sehr vorangschritten um wieder in die Demokratie zurückzukehrn. Wenn die Bevölkerung es so will und nicht kritisch ist haben wir dis wohl verdient. Antwort schreiben RC Robert C. vor 8 Minuten „Erschwerend hinzu kommt die "Überdehnung des politischen Raums". Die unvermeidliche Einbettung der Nationalstaaten in die Europäische Union […] befördert den Eindruck, der Wählerwille werde aus nationalen Parlamenten abgesaugt […]“ Warum sollten dann die USA funktionieren? Da sind 50 Staaten, gebildet von Eingewanderten aus aller Welt keine Überdehnung? Warum die Bundesrepublik mit 83 Millionen verschiedenster Kultur? Warum Bayern mit seinen „vier Stämmen? Warum sollte man nicht das Gefühl haben, der eigene Wille würde „abgesaugt“, wenn das irgendwo im weit entfernt Berlin passiert und warum sollte das schlechter sein, wenn mein Europäisches Parlament sich dafür einsetzt, dass „Provinzfürsten“ (um mal im Duktus des Artikels bleiben) eben nicht die „Grenzen“ zu meinen Nachbarn hier im Süden einfach so schließen und mich ausgrenzen können? Fazit: Wenn diese Aussage stimmte, dann würde nur ein System funktionieren: ich - und meine Sippe - zuerst. Ab dann beginnt „Überdehnung“, die ich allerdings eher Demokratie, Konsensbildung und Gesellschaft in meinem Lebens- und Handlungshorizont nennen würde. Und letzterer ist 2023 nun einmal Europa. Und die liberale Demokratie. Und die soziale Marktwirtschaft. ⭐️ 1 1 AntwortAntwort schreiben m mupfl vor 16 Minuten wenn die Normalbürger keine übergreifenden Sinnbezüge mehr herstellen können..." Erstens konnte das der Normalbürger noch nie (Und auch wenn er es könnte, war das für ihn nicht notwendigerweise entscheidungsrelevant), zweitens ist das nicht seine Aufgabe und drittens muss er es auch nicht. Der Normalbürger kann den Erfolg oder Misserfolg politischen Handelns an seiner Lebensrealität abmessen. Ronald Reagan hat das einmal in einem Satz gegossen:"Are you better Off?" Tatsächlich ist es so, dass sich politisches Handeln in zunehmendem Maße darin erschöpft, Tatwnlosigkeit und Versagen in Erfolge umzuwidmen. Diese Verrenkungen bedienen sich immer komplexer werdenden Argumentationen. Die Realität ist dadurch nicht zwingend komplexer geworden. Ansonsten erklärt sich vieles durch den historischen Materialismus. Jede Bewegung erzeugt eine Gegenbewegung. Das Pendel schwingt gerade in die Gegenrichtung. Mehr findet nicht statt als die Gegenbewegung zur grenzenlosen Wohlfahrtsl iberalität. Antwort schreiben Avatarbild von Sphärenklang Sphärenklang vor 22 Minuten Ich bin da optimistischer. In Deutschland haben wir vor zwei Jahren erlebt, wie die Wählerinnen und Wähler nach Jahrzehnten des rückwärtsgewandten Stillstand auf demokratischem Weg einer Reform-Regierung den Weg bereitet haben, die unsere sozialen Probleme löst und für Klimagerechtigkeit sorgt. Seitdem geht es den meisten Leuten deutlich besser und sie blicken hoffnungsvoll in die Zukunft. 😁 4 🤨 1 Antwort schreiben FV Frank V3 vor 28 Minuten Meiner Ansicht nach findet sich in Selks Analyse viel Wahrheit; was jedoch zu kurz kommt, ist das Vorgehen der international vernetzten extremen Rechten. Selk beschreibt einige der Gründe für deren Erfolg, unterschätzt jedoch den Anteil von deren Methoden: über Omnipräsenz im Netz werden Halb- und Unwahrheiten, gepaart mit falschen Schuldzuweisungen verbreitet, wobei bewusst auf Themen mit hohem Polarisierungspotential gesetzt wird. Die zigtausendfach wiederholten Phrasen sind teilweise international fast wortgleich, austauschbar sind nur die Namen der Länder und der jeweiligen Politiker. Dieses Vorgehen ist weitgehend gedeckt von einer Errungenschaft der freiheitlichen Demokratie: dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Jedoch stellen solche organisierten Kampagnen keine Meinungen dar, vielmehr arbeiten sie mit unlauteren Mitteln, um dieselbe zu beeinflussen. Die Demokratie muss wehrhaft sein. ⭐️ 1 ❤️ 1 Antwort schreiben Kf Kämpfer für wahre Gerechtigkeit vor 38 Minuten Wir müssen das Grundüberl - den Raubtierkapitalismus - überwinden. Nur so gibt es eine klima- und sozialgerechte neue Gesellschaft! 🙁 1 Antwort schreiben D DeleturusRedactionemSalutat vor 41 Minuten Alles ist sterblich, lernt man, auch ... Das lernt man aber schon im Geschichtsunterricht in der Schule, wenn man die Schlussfolgerungen aus dem geforderten Faktenwissen ( "333 bei Issos Keilerei ..." ) ziehen kann. Manchmal geht es schneller ( "1000jähriges Reich" ), manchmal dauert es etwas länger ( Pharaonen, aber in 3 unterschiedlichen Abschnitten ), mal von innen, meistens von außen, heute wohl schneller als früher. Vieles überdauert nicht die 4te Generation, wenn alles Vorhandene/Erwirtschaftete als selbstverständlich angesehen wird und der sprichwörtliche "Esel aufs Eis tanzen geht" und mit offenem Maul auf die gebratenen Tauben wartet. ⭐️ 1