Wednesday, December 6, 2023

Die Schule - eine deutsche Klassengesellschaft

FR Die Schule - eine deutsche Klassengesellschaft 8 Std. Kolumne Im Klassenzimmer entscheidet sich, wer gute Zukunftschancen besitzt – und wer nicht. Das dreigliedrige Schulsystem ist gescheitert. Trotzdem ertönen jetzt wieder Rufe nach Segregation, Elitenförderung und harter Hand. Die Kolumne Es gibt es leider immer noch, das durch nichts begründete deutsche Überlegenheitsgefühl, das entgegen aller Evidenz immer noch davon ausgeht, Maßstäbe zu setzen, letztlich die Menschheitsentwicklung anzuführen. Ganz selbstverständlich glauben die Deutschen beispielsweise, Englisch sprechen zu können, wo schon die kleinste Auskunft sie in aberwitzige Kapriolen stürzt („you can go, äh, to the crossroads, then there is a left curve“). Je älter die Leute sind, desto mehr überschätzen sie dabei ihre Schulbildung; noch die Teilnahme an einem Französisch-Leistungskurs vor dreißig Jahren stattet sie mit dem Selbstbewusstsein aus, freimütig den größten Unsinn über Godard, Godot und Gott weiß wen abzusondern. Ganz selbstverständlich werden dabei noch die ekelhaftesten Erziehungsmethoden des eigenen Lehrpersonals glorifiziert – ja, der Müller, der war hart, aber dafür kann ich den Satz des Protagoras bis heute auswendig! Vieles, was damals stattgefunden hat, war schlichtweg Missbrauch – und ich spreche als Überlebender eines bayerisch-humanistischen Gymnasiums. Einen Pisa-Schock kann folglich nur haben, wer vorher Pisa-Illusionen hatte. Selbstgewählte Illusionen, möchte man ergänzen: Denn dieselbe Generation, die ihre Schulbildung überschätzt, hat auch die Parteien an die Macht gebracht, die an ihr heute sparen. Allein in Hessen werden der jahrzehntelange Lehrer:innenmangel, die vergammelten Schulgebäude und die Notwendigkeit, die Kinder mit eigenem Klopapier in den Ranzen zum Unterricht zu schicken, keineswegs in Verbindung gebracht mit der ebenso jahrzehntelangen faktischen Alleinherrschaft der CDU. Deren mehrfach gescheiterte Rezepte – Segregation, Elitenförderung, harte Hand und bloß keine Kuschelpädagogik – werden jetzt wieder ausgepackt, so als hätten in den letzten Jahren an hessischen Schulen alle nur ihren Namen getanzt. Mit dem Dünkel derjenigen, die sich von ihren Enkeln DOCs in PDFs umwandeln lassen, werden dann Bildungsoffensiven mit der Gießkanne gestartet, die im Wesentlichen die eigenen Spezis versorgen. Da werden schnell mal tausend Tablets angeschafft, weil der eigene Schwager da Prozente kriegt, oder man lässt den Unternehmerverband, dem der Cousin vorsteht, ein paar Seminare halten, für die Wirtschaftskompetenz unserer Kleinsten! Am Grundproblem zu rütteln, hieße natürlich, am wichtigsten Mechanismus der deutschen Klassengesellschaft zu rütteln, dem dreigliedrigen Schulsystem. Während Eltern verzweifelt bemüht sind, ihre Kinder fitzumachen für eine Gesellschaft, in der es sich für immer weniger Leute zu leben lohnt, Umzüge fingieren und sich zum Schein ummelden, um nur ja im Einzugsbereich des Elitegymnasiums zu landen, wird von erwartbarer Stelle der „Schock“ mit altbewährten Rassismus erklärt: „die“ ziehen unseren guten Standard runter! Interessanterweise kommen diese Sprüche von Parteien, die sich sonst freimütig vom wissenschaftlichen Konsens verabschieden, falls der in Sachen Klima und Epidemiologie nicht den eigenen Wünschen entspricht. Schock hin oder her: Bis auf weiteres bleiben die Schulen eine beliebige Projektionsfläche für die Zurüstungsphantasien einer Mittelschicht, die von geistigen Eliten fieberträumt – und gleichzeitig keinen Cent mehr ins System geben möchte. Leo Fischer ist Autor, Stadtrat in Frankfurt (Ökolinx) und war Chefredakteur des Satiremagazins „Titanic“.