Saturday, December 2, 2023
F.A.Z.-Bürgergespräch: Migration wird Dauerthema bleiben
Frankfurter Allgemeine Zeitung
F.A.Z.-Bürgergespräch: Migration wird Dauerthema bleiben
Artikel von Monika Ganster •
18 Std.
Migration, ein Thema mit vielen Aspekten: Moderator Manfred Köhler (F.A.Z.), Jan Weckler (Landrat des Wetteraukreises), Maneesorn Koldehofe (Leiterin des Mädchenbüros Milena), Susanne Haus (Präsidentin der Handwerkskammer Frankfurt/Rhein‑Main) und Reinhard Müller (F.A.Z.,) im Gespräch
Migration – und dann? Diese Frage des jüngsten F.A.Z.- Bürgergesprächs interessierte F.A.Z.-Leser und lockte sie in die Evangelische Akademie am Römerberg und zu Hause an die Bildschirme.
Carsten Knop, Herausgeber der F.A.Z., eröffnete die Veranstaltung mit einem Lob auf einen der Podiumsteilnehmer, der schon im Sommer des vergangenen Jahres weitsichtig auf die wachsenden Probleme der Kommunen bei der Versorgung von immer mehr Flüchtlingen hingewiesen hatte: Jan Weckler (CDU). Der Landrat des Wetteraukreises schilderte im folgenden Gespräch mit Manfred Köhler, einem der beiden Ressortleiter des F.A.Z.-Regionalteils, eindringlich, wie sich die Lage nicht nur in seinem Landkreis seitdem verschärft habe.
Ob Migration, Ernährung oder Parteienlandschaft: Der Diskurs ist bei den F.A.Z.-Bürgergesprächen elementarer Bestandteil.
Im gesamten Jahr 2023 werde der Wetteraukreis voraussichtlich 3000 Flüchtlingen unterbringen müssen, die dem Kreis vom Land zugewiesen würden, sagte Weckler. Nach der Ankunft von Tausenden Ukrainern im vergangenen Jahr sei nun der Wohnungsmarkt wie fast überall leer gefegt, und mit Beginn des Winters müsse über Notunterkünfte nachgedacht werden.
Obschon die Bundespolitik das Thema endlich auf die Prioritätenliste gesetzt habe, könnten die geplanten Gesetzesänderungen nur mittelfristig die schwierige Lage in den Kommunen ändern, glaubt Weckler. Im Landkreistag, dem Spitzenverband der Gemeindeverbände, klagten Vertreter sämtlicher Parteien über die gleichen Probleme: zu wenig Geld, zu wenig Wohnraum, fehlende Sprachkurse. „7.500 Euro pro Flüchtling und Jahr genügen einfach nicht, wir legen als Kommune erheblich drauf“, sagte Weckler.
„Die Gesellschaft ist erschöpft“
Neben Geld mangele es aber auch an der Möglichkeit, die Neuankömmlinge in die Gesellschaft einzubinden. „Integration funktioniert nur konkret in der Begegnung“, resümierte der Landrat. Genau diese Begegnungen schafft Maneesorn Koldehofe, die das Mädchenbüro Milena in Frankfurt leitet. Das Team betreut täglich 150 Menschen aus 19 Nationen, Babys ebenso wie Schulkinder, denen bei den Hausaufgaben geholfen wird, und auch Mütter, die dort Sprachunterricht erhalten.
Koldehofe machte deutlich, dass Integration ohne die vielen ehrenamtlichen Helfer in Deutschland nicht funktionieren würde. Das Engagement, legendär im Jahr 2015, sei 2022 mit Beginn des Ukrainekriegs wieder da gewesen, aber nun erlahme die Kraft. Die dritte Teilnehmerin der Diskussionsrunde, Susanne Haus, Präsidentin der Handwerkskammer Frankfurt/Rhein-Main, beschrieb es so: „Die Gesellschaft ist erschöpft.“ Angesichts der Sorgen um das eigene Auskommen sinke die Bereitschaft zu teilen.
Integration in Betrieben sei vor allem eine Investition in die Mitarbeiter, sagte Haus. Wer arbeiten und lernen wolle, sei willkommen, freie Stellen gebe es genug. Doch der Prozess des Aneinandergewöhnens verheiße „nicht jeden Tag Sonnenschein“, es prallten sehr unterschiedliche Kulturen aufeinander, „Culture Clash“ nannte das Koldehofe.
Das Damoklesschwert der Abschiebung, das auch noch Jahre nach ihrer Arbeitsaufnahme über vielen Flüchtlingen schwebe, weil ihr Bleiberecht noch immer ungeklärt sei, müsse beseitigt werden, forderte Haus von der Politik. Landrat Weckler ergänzte, dass idealerweise auch den Kommunen nur Flüchtlinge zugewiesen werden sollten, die eine echte Bleibeperspektive hätten. Doch dazu müssten die Mühlen der Bürokratie viel schneller mahlen als bisher.
Ein Einwanderungsministerium für Deutschland?
Aus dem Publikum kam dazu die Anregung, doch wie in Kanada und Australien, deren Einwanderungspolitik immer wieder als Leitbild herangezogen wird, ein Einwanderungsministerium zu schaffen. Das könne die derzeit auf viele Ämter verteilten Befugnisse bündeln und die Abläufe stringenter machen, so die Hoffnung.
Reinhard Müller, verantwortlicher Redakteur für „Zeitgeschehen“ der F.A.Z. und selbst Jurist, setzt auf die Einhaltung bestehender Gesetze. Abschiebungen, so harsch sie in den beschriebenen Einzelfällen erschienen, seien keine Willkürentscheidungen, sondern die Umsetzung geltenden Rechts. Er hält die Idee einer Asylbearbeitung im Ausland für möglich, damit die lebensgefährliche Reise der Flüchtlinge über das Mittelmeer gar nicht erst angetreten werde. Und Müller hält eine Obergrenze des Zuzugs für notwendig, um die genannten Probleme bewältigen zu können.
Die Anreize, die Deutschland mit Geldleistungen für Flüchtlinge setze, wurde mehrfach kritisch bewertet. Der Abstand zwischen dem Einkommen von Geringverdienern und Bürgergeldempfängern wie etwa den Ukraineflüchtlingen sei so gering, dass sich Arbeit kaum lohne. Dafür müssten ebenfalls Lösungen gefunden werden, um die Zugezogenen auch zu den Arbeitskräften zu machen. Denn dass die Migrationsfrage auch die nächsten Jahrzehnte bestimmen wird – darin waren sich alle einig.