Friday, December 1, 2023
Eine letzte, viel zu kurze Begegnung
WELT
Eine letzte, viel zu kurze Begegnung
Artikel von Mathias Döpfner •
9 Std.
Henry Kissinger wollte unbedingt optimistisch sein, aber es gelang ihm nicht recht. Über eine letzte Begegnung in Connecticut, in der es so viel um die Zukunft ging, dass die Zeit zu schnell verging.
Henry Kissinger im Gespräch mit Mathias Döpfner WELT TV
Sein Tod jetzt ist wie ein Zeichen. Als hätten die aktuellen Ereignisse ihm das Herz gebrochen, sein Lebenswerk zerbrochen, weil die Weltordnung noch einmal – und diesmal fast weltweit – die hässliche Fratze des ewigen Antisemitismus zeigt. Das, wogegen er ein ganzes Leben gekämpft und gearbeitet hat, die Unversöhnlichkeit, hat ihn am Ende seines Jahrhundertlebens wieder eingeholt. Es ist, als wenn mit ihm ein ganzes Konzept, eine Ordnung der transatlantischen Stabilität, der Balance von Ratio und Menschlichkeit, geht.
Unser letztes Treffen fand erst vor wenigen Wochen, zwei Tage nach dem Terrorangriff auf Israel, statt. Ich besuchte Henry Kissinger in seinem Landhaus in Connecticut. Das Herbstlaub auf dem mehr als 160 Hektar großen Grundstück in Kent leuchtete blutrot, gelb der Spitzahorn und hier und da immer noch grün die amerikanische Eiche. In dem großen Teich vor dem atlasweißen Wohnhaus schwammen große, graue, alte Karpfen. Die Wiesen waren regengetränkt.
Henry begrüßte mich in seinem Wintergarten. Er saß in einem Sessel, etwas zusammengesunken, aber doch stolz wie auf einem Thron. Auf dem Tisch ein Glas Wasser, Zeitungen, im Fernsehen lief „Fox News“ und zwischendurch „CNN“. Bilder aus Israel. Henry Kissinger war ganz in seinem Element, ernst, angesichts der Weltlage, erfreut, wegen des Besuchs. Die Stimme war rau, vielleicht noch etwas brüchiger als sonst.
Aber sein Blick war hellwach. Die Mimik fast jungenhaft. Seine blauen Augen blickten lange und durchdringend und warm in das Gesicht des Besuchers. Er freute sich sehr auf unser Interview. Und wie immer hatte er es eilig. „Wollen wir gleich anfangen oder möchtest du dich noch etwas ausruhen?“, wollte er wissen und sagte ohne die Antwort abzuwarten: „Ich ziehe mir nur rasch ein Hemd an, dann können wir loslegen“.
Dann gab es doch noch eine Unterbrechung. Sein Sohn rief aus Los Angeles an. Henry hatte es plötzlich gar nicht mehr eilig. David, der als erfolgreicher Filmproduzent arbeitet, hatte seinen Vater zuletzt bei seinem Fest zum hundertsten Geburtstag in Fürth gesehen.
Zum Hundertsten: Henry Kissinger und Mathias Döpfner im Gespräch Daniel Biskup
Die beiden redeten nun über Gott und die Welt und das Wetter in Kalifornien. Sein Sohn und ich saßen damals im Juni nebeneinander beim Mittagessen in Kissingers Geburtsstadt und ich fragte ihn: „Wie ist Henry Kissinger eigentlich als Vater?“ Die Antwort war prompt: „Liebevoll. Und er hat immer Zeit – auch wenn er nie Zeit hat“.
Im nahegelegenen Gästehaus waren die Kameras und die Beleuchtung schon aufgebaut, um ein Fernseh-Interview aufzuzeichnen. Wir wollten über Deutschland sprechen. Und über Henrys Kindheit. Aber natürlich redeten wir zuerst über Israel. Das Gespräch dauerte mehr als zwei Stunden. Immer wieder unterbrach ich und fragte, ob es nicht zu anstrengend werde. Aber Kissinger wollte weitermachen, weiterreden, weiterdenken. Auch als die Kameras schließlich aus waren, ging es weiter. Er konnte und wollte nicht aufhören. Es trieb ihn zu sehr um, was da gerade geschah. Er wollte unbedingt optimistisch sein. Aber es gelang ihm nicht recht.
Am Abend saßen wir vor dem Kamin. Machten Selfies mit einer Henry-Kissinger-Stoffpuppe, die neben dem Holzstapel lag, verbogen albern die große schwarze Brille. Irgendwann kam seine Frau Nancy dazu. Es war schön zu sehen, wie er sich freute, dass sie nach langer Krankheit wieder die Kraft hatte, aufzustehen. „Es ist seit Langem das erste Mal, dass sie wieder bei einem Dinner dabei sein kann“, sagte er stolz. Die beiden tauschten Blicke wie frisch Verliebte. Henry lächelte wie ein Bub.
Und dann beim Abendessen wurde es wieder und unweigerlich ernst, ja düster. Schwache Führung in den großen Demokratien dieser Welt. Vor allem in Amerika und Europa. Erstarkende Autokratien. Kulturelle Selbstaufgabe durch die postkoloniale Ideologie des Selbsthasses. Eine gescheiterte und verantwortungslose Migrationspolitik in Europa, vor allem in Deutschland. Eine Vernachlässigung der transatlantischen Achse und gemeinsamer Interessen. Und immer wieder der Hass der islamistischen Terroristen, die Täter-Opfer-Umkehr, die Freudenfeiern auf Berliner Straßen angesichts des barbarischen Mordens – das waren die traurigen Themen des Abendessens.
Auch hier gab es kein Ende. Henry blieb lange wach. Damals und auch bei unserem vorletzten Treffen bei einem Abendessen im September in New York und dem vorvorletzten Treffen bei einem Geburtstagsdinner in London. Henry ging zuletzt immer als Letzter. Weil er noch reden wollte. Weil er jede Minute nutzen wollte. Weil er verstehen wollte, was er nicht fassen konnte.
Der Abschied am nächsten Morgen nach einem ausgiebigen Frühstück mit Toast und Rührei und Speck – Nancy kam wieder kurz dazu – war heiter. Wie so oft dachte ich auch diesmal für einen Moment, dass das vielleicht die letzte Begegnung gewesen sein könnte. Seit zehn Jahren dachte ich das immer wieder, verabschiedete mich sehr bewusst, sodass es jedes Mal ein letztes Mal sein konnte. Diesmal nicht. Ich verwarf den Gedanken. Henry wirkte so präsent.
Und es gab noch soviel zu besprechen. Er blieb sitzen und gab mir seine warme, weiche, mit braunen Flecken besäte Hand ganz lange und sagte dann: „Ich komme ja bald nach Berlin zur Preisverleihung an Jens Stoltenberg, dann gehen wir vorher Mittagessen und besprechen alles Weitere.“ Das Weitere gibt es nun nicht mehr mit ihm.
Unser erstes Treffen
Vor knapp dreißig Jahren lernte ich Henry Kissinger bei einem Mittagessen in New York zusammen mit dem britischen Verleger und gemeinsamen Freund Lord George Weidenfeld kennen. Weidenfeld, ursprünglich Österreicher, Holocaust-Überlebender und treuer Freund der Nachkriegs-Deutschen, starb im Alter von 96 Jahren im Januar 2016. In seinem letzten Interview hatte er nur eine große Sorge: den islamistischen Terrorismus. In einem WELT-Gespräch wenige Wochen vor seinem Tod sagte er: „Die Nazis haben die Vernichtung ihrer Feinde, zuvörderst der Juden, als industrielle Maßnahme organisiert. Es war ein widerliches, kaltes Morden ohne große Emotionen. Die Bolschewisten haben bei den organisierten Hungerkatastrophen, mörderischen Umsiedlungen und Exekutionen ganz anonym Millionen umgebracht. Grauenvoll genug. Aber nun kommen diese Dschihadisten als fröhliche Sadisten und sagen der freiheitlichen Lebensform ebenfalls den Kampf an. Was tun sie? Sie köpfen und kastrieren ihre Opfer, sie schänden Frauen nach Belieben, kreuzigen die Menschen, verstümmeln sie. Das ist moralisch für mich die unterste Stufe des Menschseins.“ Und fügte – aus heutiger Sicht treffend – damals im Dezember 2015 hinzu: „Bald wird es eine weitere Intifada geben. Und Israel kann sich keinen Pazifismus leisten.“
Immer wieder haben wir, die Freunde von George Weidenfeld, uns in den letzten Jahren getröstet, indem wir uns sagten: „Wie gut, dass George das alles nicht mehr erleben musste.“ Der große Brückenbauer Weidenfeld und der große Realpolitiker Kissinger, den sein wichtigster Biograf Niall Ferguson im Titel seines Buches einen „Idealisten“ genannt hat, wollten das Gleiche: Nie wieder Krieg, nie wieder Pogrome, nie wieder Genozid, nie wieder Antisemitismus. Weidenfeld musste es nicht mehr erleben, Kissinger musste darüber sterben: Krieg, Pogrome, Genozid, Antisemitismus sind wieder Alltag. In Deutschland, in Europa, in Amerika und in der ganzen Welt.
Henry Kissingers hundertjähriges Leben umfasst ein besonders blutiges Säkulum. Es begann in den Ruinen des Ersten Weltkriegs, wurde entscheidend geprägt durch das Überleben des Zweiten Weltkriegs und der Schoah, es gipfelte in der aktiven politischen Gestaltung und Eskalations-Vermeidung während des Kalten Krieges und es endete mit Krieg in der Ukraine und in Israel. Sein gesamtes politisches Wirken galt – mal mehr, mal weniger erfolgreich, in Summe aber prägender als die meisten politischen Biografien – einer Friedensordnung. Der Humanitas.
Es war ein Leben für Ausgleich und Versöhnung. Es ist eine Tragödie, dass diese Geste der Versöhnung, die von so vielen Überlebenden und Opfern des Judenhasses ausgeht, gerade von weiten Teilen einer jungen Generation – für die sich Kissinger immer besonders interessiert hat – offenbar ungehört bleibt.
Auch Ignatz Bubis, der große und langjährige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, starb traurig und besorgt. In seinem letzten großen Interview sagte er kurz vor seinem Tod: „Ich möchte in Israel beerdigt werden, weil ich nicht will, dass mein Grab in die Luft gesprengt wird.“
Henry Kissinger wird in Amerika beerdigt. Dort tobt ein Kulturkampf, der Werte und Denkmäler stürzt und sprengt wie in einem Kreuzzug. Wird eine Generation, die den Holocaust kaum noch aus dem Schulbuch kennt, alles dafür tun, dass sein Grab nie, in keiner Weise, gesprengt wird?
Henry Kissinger lebte ein Leben, das länger, prägender und erfüllter war als die allermeisten. Er hat die Welt verändert. Und er – das intellektuelle Rückgrat der demokratisch geprägten Weltordnung – wird fehlen. War der Glückhafte auch glücklich? Kurz nach dem 7. Oktober sagte Henry Kissinger zu einem Freund: „As you know we are the shrinking few who are happy, aber nicht glücklich.“