Thursday, December 21, 2023

DATENANALYSE - So viele Flüchtlinge in Europa wie seit 2016 nicht mehr

Neue Zürcher Zeitung Deutschland DATENANALYSE - So viele Flüchtlinge in Europa wie seit 2016 nicht mehr Artikel von Nikolai Thelitz • 5 Std. Mehr als 355 300 Mal haben Flüchtlinge von Januar bis November 2023 versucht, auf irregulärem Weg nach Europa zu gelangen. Das sind laut der EU-Grenzschutzbehörde Frontex so viele Grenzübertritte wie seit über sieben Jahren nicht mehr. Ein Vergleich der Zahlen zeigt: Mit der Flüchtlingswelle von 2015 und 2016 ist die aktuelle Lage nicht vergleichbar. Im Jahr 2015 waren es im gleichen Zeitraum von Januar bis November über 1,6 Millionen Grenzübertritte. Trotzdem sind in den vergangenen Jahren die Zahlen kräftig gestiegen. Die EU-Staaten und das Europaparlament haben angesichts der steigenden Zahlen eine umfassende Reform des Asylwesens beschlossen. Vor allem Migranten aus Ländern mit wenig Aussicht auf Asyl sollen härter angepackt werden. So sollen künftig vermehrt Asylverfahren direkt an den EU-Aussengrenzen durchgeführt werden, die Geflüchteten werden bis zum Entscheid in haftähnlichen Bedingungen untergebracht und können nach einem negativen Entscheid leichter in sichere Drittländer ausserhalb Europas abgeschoben werden. In der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 gelangten besonders viele Menschen über die östliche Mittelmeer-Route und die Westbalkan-Route nach Europa. Dieses Jahr kamen die meisten Flüchtlinge über das zentrale Mittelmeer nach Europa. Auch die westafrikanische Route, welche von Marokko oder Senegal auf die Kanarischen Inseln führt, war dieses Jahr so beliebt wie nie. Mehr als 32 000 Menschen wagten bis im November die hochgefährliche Reise über den Atlantik. Das sind mehr als doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Ausgerechnet auf der kleinen Insel El Hierro mit nur 11 000 Einwohnern landen besonders viele Flüchtlingsboote und stellen die Insel damit vor grosse Herausforderungen. Auf den östlichen Routen haben sich mittlerweile Grenzzäune und verstärkte Grenzkontrollen etabliert, so dass sich viele Flüchtlinge auf den gefährlicheren Routen über das Mittelmeer oder gar über den Atlantik bessere Chancen ausrechnen. Doch die gestiegenen Zahlen lassen sich auch auf veränderte Migrationsströme zurückführen. Auf den Kanarischen Inseln landen laut der Frontex-Statistik vor allem Flüchtlinge aus Westafrika. Es sind Marokkaner und Senegalesen, aber auch Ivoirer, Guineer und Malier. Von vielen Geflüchteten ist aber nicht bekannt, woher sie genau stammen. Die Zahl der Migranten aus Senegal steigt auch wegen der dortigen politischen Unruhen, welche neben der Armut für viele ein weiterer Grund sind, das Land zu verlassen. Neu ist, dass auch auf der zentralen Mittelmeer-Route viele Westafrikaner unterwegs sind. Die Zahl der Guineer übersteigt dieses Jahr die Zahl der Tunesier, die der Ivoirer jene der Ägypter. 2022 war dies noch nicht so. Viele der Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika lebten bereits einige Jahre in Tunesien. Sie fliehen nun vor der vom tunesischen Präsidenten Kais Saied angefachten fremdenfeindlichen Stimmung im Land weiter nach Italien. Auf der Balkan-Route und der östlichen Mittelmeer-Route bilden Syrer, Afghanen, Türken oder Palästinenser dieses Jahr die grössten Flüchtlingsgruppen. Das war in den vergangenen Jahren ähnlich. Sie haben gemäss den Statistiken der Europäischen Asylagentur (EUAA) zumindest gute Chancen auf subsidiären Schutz, also ein zeitlich begrenztes Bleiberecht, weil eine Rückschaffung nicht möglich ist. Bei den Westafrikanern liegen die Chancen auf Asyl immerhin noch bei zwanzig Prozent. Tunesier, Marokkaner oder Bangalen müssen jedoch praktisch in allen Fällen mit einem negativen Entscheid rechnen. Trotz den niedrigen Asylchancen werden sich auch 2024 wohl wieder Tausende dieser Landsleute auf die gefährliche Reise nach Europa machen, viele von ihnen werden in der Illegalität leben, unter prekären Bedingungen. Ob die neuen Massnahmen der EU im Kampf gegen irreguläre Migration die Zahlen zumindest eindämmen können, wird sich zeigen. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR ging im September noch davon aus, dass der Migrationsdruck nächstes Jahr weiter ansteigt.