Friday, December 1, 2023

«Anne Will»: das Aus für den müden Talk der Merkel-Jahre

Neue Zürcher Zeitung Deutschland «Anne Will»: das Aus für den müden Talk der Merkel-Jahre Artikel von Susanne Gaschke, Berlin • 27 Min. Als die Christlichdemokratin Angela Merkel 16 Jahre lang Bundeskanzlerin gewesen war, verbreitete sich in Deutschland das Gefühl, das reiche nun auch. Dafür gab es gute Gründe, denn Merkels Politik hinterliess katastrophale Baustellen – bei der Energiepolitik, bei der Infrastruktur, bei der Verteidigung, bei der Einwanderung. Dass es noch schlimmer kommen könnte, hielt kaum jemand für möglich. Doch in den zwei Jahren, in denen ihr sozialdemokratischer Nachfolger Olaf Scholz regiert, ist die Unzufriedenheit mit der Ampelregierung so gewachsen, dass Einzelne sich nach der Merkel-Ära zurückzusehnen beginnen, weil sie als das kleinere Übel erscheint. Genauso lange, wie Merkels Amtszeit dauerte, 16 Jahre nämlich, gab es die ARD-Talkshow «Anne Will». Am Sonntagabend wird die letzte Folge ausgestrahlt. Auch gegenüber der Moderatorin machte sich beim Publikum jüngst ein gewisser Überdruss bemerkbar. Die Quote sank. Die Journalistin Anne Will moderierte den ARD-Talk seit dem Jahr 2007. Ihre Sendeplatz-Vorgängerin Sabine Christiansen hatte sich seit 1998 hart gegen die damalige rot-grüne Bundesregierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Vizekanzler Joschka Fischer positioniert. Bei Christiansen traten häufig Vertreter von Wirtschaftsverbänden auf, ausserdem Unternehmer und Experten, die scharfe Kritik an der rot-grünen Politik formulierten. Lächeln und dann an der interessantesten Stelle der Antwort den Gast unterbrechen. So war es leider ;manchmal bei «Anne Will». Wohlwollende Begleiterin der Merkel-Jahre Als Dauergast aus der Christiansen-Zeit ist der konservative Publizist Arnulf Baring erinnerlich; der frühere Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel; der marktliberale Wirtschaftswissenschafter Hans-Werner Sinn. Die Sendungen trugen gern provokante Titel wie «Melkkuh Sozialstaat – sind wir ein Volk von Abzockern?» oder «Arm durch Arbeit, reich durch Hartz IV?». Im Gegensatz dazu schlug Wills Redaktion von Anfang an einen moderateren Ton an und behielt ihn bei – obwohl etwa die Debatte um das Bürgergeld der Ampelkoalition die Gemüter auch 2023 erhitzt. Wenn Christiansen eine anti-rot-grüne Moderatorin war, dann war Anne Will die wohlwollende Begleiterin der Merkel-Jahre. Also jener Jahre, in denen die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin die Union auf einen schwarz-grünen Kurs drängte – und die Sozialdemokraten zur Verzweiflung trieb, indem sie ihnen immer wieder die Themen wegnahm, vom Atomausstieg bis zu «Refugees welcome». Höflich, aber hartnäckig Für ihr Wohlwollen ist Will häufig kritisiert worden. Man warf ihr zum Beispiel vor, Merkel in der Asylkrise der Jahre 2015 und 2016 geradezu als Stichwortgeberin zur Seite gestanden zu haben, weil sie ihr als einzigem Gast ihre Sendung freiräumte. Schaut man sich die Solo-Formate der beiden Frauen allerdings heute noch einmal aus der Distanz an, dann sieht man eine Journalistin, die zwar höflich, aber durchaus hartnäckig fragt, wenn Merkel auszuweichen versucht: Ob die Kanzlerin sich mit ihrem legendär-fatalen Satz «Wir schaffen das» nicht doch vergaloppiert habe? Ob Merkel ihren Innenminister Thomas de Maizière entmachtet habe? Fünf Mal hakt Will im Oktober 2015 allein wegen des Innenministers nach. Man erlebt in diesen Solitär-Sendungen eine Kanzlerin, die sich bemüht, bemühen muss, zu argumentieren und zu überzeugen – auch wenn viele Deutsche ihr angesichts der sich abzeichnenden Integrationsprobleme im Land nicht folgten. Merkels Nachfolger Scholz ist hingegen berüchtigt dafür, dass er in ähnlichen Situationen nur Floskeln von sich gibt. Ihn ins Argumentieren zu bringen, gelang auch Will im Zweiergespräch nicht. Manchmal fiel sie den Gästen zur falschen Zeit ins Wort Möglicherweise wäre das grosse Einzelinterview für Will die geeignetere Form gewesen als eine Talkshow mit mehreren Teilnehmern, die den politischen Diskurs des Landes abzubilden versucht. In den grösseren Runden schwankte die Moderatorin manchmal zwischen einer schematischen Einzelbefragung ihrer Gäste – denen sie leider häufig genau dann ins Wort fiel, wenn sie anfingen, etwas Interessantes zu sagen – und dem etwas hilflosen Versuch, ein Diskussionsgetümmel zu entwirren. Bei den Gästen gingen Wills Redaktoren meist auf Nummer sicher: Für die Parteien kamen Vorsitzende, Minister, Generalsekretäre. Mindere Funktionäre wurden nur dann eingeladen, wenn jugendliches Aufbegehren gefragt war. Sowohl Wills Experten als auch die Journalisten, die fester Bestandteil ihrer Truppe waren, bewegten sich innerhalb eines bombensicheren Meinungskorridors. Man hat Will bezichtigt, immer mehr nach links zu driften und einseitig zu sein. Das stimmt eher in Bezug auf die Grundstimmung der Sendung als mit Blick auf die Gäste: Will lud durchaus konservative und linke Ökonomen, rechte Historiker und linke Friedensforscherinnen und Journalisten mit sowohl links-grünem als auch bürgerlich-liberalem Profil ein. Gefragt war allerdings immer eine Haltung, die das Juste Milieu ertragen konnte. Niemand sagt jemals etwas Unvorhergesehenes Was sie stets sorgfältig vermieden hat, war jede auch nur denkbare Form von Überraschung. Sowohl bei der wirtschaftsliberalen Julia Löhr von der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» als auch bei der grün-affinen «Zeit»-Autorin Petra Pinzler, sowohl bei der unkaputtbaren «Spiegel»-Frau Melanie Amann als auch bei dem unverblüffbaren «Welt»-Mann Robin Alexander konnte sie sich vollkommen gewiss sein, dass sie immer ein informiertes, abgewogenes Meinungsbild erhalten würde. Dass niemand jemals irgendetwas Unvorhergesehenes sagen würde. Einen gewissen Missionseifer glaubte man bei Will in Corona-Zeiten zu erkennen: Da gehörten die geladenen Experten ganz überwiegend zum «Team Vorsicht». Die Virologin Melanie Brinkmann und der omnipräsente Virologe Christian Drosten bekamen viel Raum, um radikale Covid-Strategien zu erklären. Kritiker der massiven Grundrechtseinschränkungen, der Lockdowns, der Schul- und Kita-Schliessungen und der rabiaten Diskussion über einen Impfzwang befanden sich in extremer Unterzahl – zugelassen für die skeptische Position waren fast nur harmlose FDP-Politiker. Die grosse Illusion der Berliner Republik Möglicherweise war es die Überraschungslosigkeit der Sendung, die mehr als alles andere zu dem Gefühl beigetragen hat, sie nicht mehr jeden Sonntagabend sehen zu müssen. Will präsentierte unfallfrei, was «die da oben» denen da unten oder denen da draussen sagen wollten. Es gab aber nie eine ernsthafte Möglichkeit, zu antworten. «Anne Will» steht wie keine zweite öffentlichrechtliche Sendung für die Merkel-Jahre. Vielleicht steht sie zugleich für eine grosse Illusion der «Berliner Republik»: dass nämlich der Umzug der deutschen Hauptstadt von Bonn nach Berlin zu mehr Bürgernähe, zu mehr Kontakt zwischen Politikern und der unordentlichen, unübersichtlichen Wirklichkeit der anderen Menschen führen würde. Das Gegenteil ist eingetreten: Nie war die Hauptstadtblase der politisch-medialen Elite weiter entfernt vom Lebensgefühl der Leute in kleinen Städten wie Plön, Cottbus, Überlingen oder Unna. Nie redeten Politiker abgehobener, nie war die Personalauswahl der Parteien fragwürdiger, nie hatte eine Rechtspartei in der Geschichte der Bundesrepublik mehr Zuspruch als derzeit die AfD. Man muss, man kann, man darf das alles nicht bei Will abladen: Sie bildete es nur ab. Aber indem sie es abbildete, verfestigte sie es auch.