Monday, February 28, 2022
Russland: In einer Wolke von Angst
Russische Menschen könnten nur demonstrieren - was aber sehr gefährlich ist, sagt der oppositionelle Journalist Wladimir Kara-Murza: Am Sonntag legte er Blumen an der Stelle ab, an der in Moskau vor sieben Jahre Putin-Gegner Boris Nemzow erschossen wurde.
SZ.de
Russland: In einer Wolke von Angst
Von Silke Bigalke, Moskau - Vor 2 Std.
Bürger und Oppositionelle können es kaum wagen, ihren Protest über Putins Überfall auf die Ukraine zu zeigen. Aber auch der Machtapparat ist nervös: Moskaus Innenstadt ist voller Polizei und Absperrungen, Kleinigkeiten genügen, damit Menschen festgenommen werden.
In einer Wolke von Angst
Es ist das erste Mal, dass Jelena Igorewna zum Jahrestag auf die große Brücke über der Moskwa gekommen ist. "Ich tue das für mein Gewissen", sagt die Rentnerin, dann benutzt sie das in Russland verbotene Wort: "Wegen des Krieges." Sie hat drei orangefarbene Rosen mitgebracht, eingewickelt in Packpapier. "Ich hoffe, dass sie Kiew nicht erobern", sagt sie leise. Dann läuft sie schnell weiter auf die andere Seite des Flusses.
Ihre Blumen hat sie zuvor dort abgelegt, wo vor genau sieben Jahren Boris Nemzow starb, kaum hundert Meter vom Kreml entfernt, mit mehreren Kugeln im Rücken. Wäre der Oppositionelle heute am Leben, so viel ist sicher, er würde in vorderster Reihe gegen Wladimir Putins Krieg in der Ukraine protestieren. Deswegen ist Jelena Igorewna am Sonntag gekommen, deswegen kommen auch andere Moskauer den schmalen Bürgersteig über die breite Autobrücke entlang.
Es sind nicht viele Menschen. Aber ab und zu hält einer inne, dort wo die Fotos von Boris Nemzow seit Jahren an der Brüstung hängen, legt Blumen ab und geht dann zügig weiter. Dutzende Journalisten, die auf der Brücke warten, fotografieren jeden Einzelnen, der sich hierherwagt. Alles ist mit Gittern abgesperrt, vor den Zugängen zur Brücke stehen Einsatzkräfte und verlangen von den Leuten, sich zu zerstreuen. Vor dem Kreml warten warnend mehrere Polizeibusse für die Festgenommenen.
"Wir konnten nicht nicht kommen", sagt Dascha, ihre beiden Freundinnen schütteln stumm den Kopf. "In Kiew", sagt die junge Frau, "leben Menschen, die uns sehr nahe stehen. Ich habe Angst um sie." Ihr kommen die Tränen, mehr kann sie nicht sagen. "Es ist schwer zu sagen, welche Stimmung in der Gesellschaft herrscht", erklärt Pjotr, ein junger IT-Techniker, seine Freunde und Verwandten seien niedergeschlagen, alle wünschten sich, dass die russischen Soldaten wieder nach Hause könnten - und die ukrainischen natürlich auch. Dann denkt er an die Sanktionen: "Vielleicht klingt es banal, aber unser Leben wird jetzt anders sein - arm, fürchterlich, anders als das Leben, das wir gewohnt sind."
Viele sorgen sich vor Repressionen und der wirtschaftlichen Zukunft
Schon jetzt ist es schwierig, einen Bankautomaten in Moskau zu finden, der noch Geld ausgibt. Viele Russen machen sich nicht nur um die wirtschaftliche Zukunft große Sorgen. "Ich habe jetzt wirklich Angst, warte auf riesige Repressionen", schreibt eine russische Journalistin in einer privaten Nachricht, "ich stehe unter Schock", eine Freundin aus Moskau. "Ich bete für meine Mutter und meinen Bruder in der Ukraine", schreibt eine Bekannte aus Chabarowsk.
Jeder, der dem Kreml kritisch gegenübersteht, hatte damit gerechnet: Wenn Putin Krieg gegen die Ukraine führt, wird er in Russland auch noch die letzten winzigen Freiräume für Menschen mit eigener Meinung schließen. Wie nervös der Machtapparat nun tatsächlich ist, zeigt eine kurze Autofahrt durch die Innenstadt, überall sieht man Absperrungen, Polizei. In der Nähe vom Puschkin-Platz, wo am vergangenen Donnerstag wenige Tausend Menschen demonstrierten, stehen Wasserwerfer in einer Seitenstraße. Täglich kommt es nun zu kleinen Protesten in verschiedenen Städten. Seit Kriegsausbruch sind dabei mehr als 5500 Menschen festgenommen worden, zählt das Bürgerrechtsportal OWD-Info. 2000 sollen allein am Sonntag Bürgerrechtlern zufolge dazu gekommen sein.
Medien, die das Wort "Krieg" verwenden, droht die Zensurbehörde Roskomnadsor, deren Webseiten zu sperren. Betroffen sind etwa die Nowaja Gaseta und der Online-Sender Doschd. Putins Machtapparat möchte den Russen seinen Angriff als opferlose "Spezialoperation" verkaufen. An der Nemzow-Brücke wird später eine ältere Frau nur deswegen festgenommen, weil auf ihrer mitgebrachten Papiertüte "Kein Krieg" steht. Gleich drei Sicherheitskräfte bringen sie zum Awtosak, zum Gefangenentransporter.
"Das Einzige, was die russischen Menschen tun können, ist zu demonstrieren, und das bringt sehr schwerwiegende Gefahren mit sich", sagt der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa an der Brücke, wo sein Freund Nemzow erschossen worden ist. Er erinnert daran, dass Russland eine Autokratie ist, die Menschen ihre Regierung nicht abwählen können, immer weniger unabhängige Medien sie über die reale Lage informieren. Der Oppositionelle, der selbst zwei Giftanschläge nur knapp überlebt hat, steht jetzt vor den Mauern des Kreml, Einsatzkräfte stehen um ihn herum. Kara-Mursa sagt laut: "Das ist nicht der Krieg des russischen Volkes, das ist ein weiteres Kriegsverbrechen eines ungewählten, unverantwortlichen und offen gesagt geistig verwirrten Diktators im Kreml."
"So viele russische Oppositionelle haben Jahre damit zugebracht, westlichen Politikern zu sagen, wer Wladimir Putin wirklich ist"
Boris Nemzow hatte 2014 die Proteste gegen die Annexion der Krim in Moskau angeführt, Zehntausende waren damals auf der Straße. 2015, kurz vor seinem Tod, wollte er eine Demonstration gegen Russlands militärisches Handeln in der Ostukraine organisieren. Schon damals nannte er die Verantwortlichen für diesen Krieg "Verbrecher". Der geplante Protestzug, sagt Kara-Mursa, wurde dann zum Trauermarsch für Nemzow. "So viele russische Oppositionelle haben Jahre damit zugebracht, westlichen Politikern zu sagen, wer Wladimir Putin wirklich ist und wohin seine Rolle führen wird", sagt Kara-Mursa. Viele hätten weggesehen.
Später kommt Ilja Jaschin auf die Brücke, bis vor Kurzem einer der wenigen unabhängigen Lokalabgeordneter in Moskau. Er hat sein Mandat 2021 aufgegeben, der Druck durch den Machtapparat wurde zu groß. Es sei wichtig, sagt er, dass die Menschen mit verschiedenen Mitteln gegen diesen "brudervernichtenden Krieg" protestierten. Im Internet haben bereits Hunderttausende Friedenforderungen unterschrieben. "Es ist sehr wichtig", sagt Jaschin, "dass das Gefühl in der Luft entsteht, dass die Menschen keinen Krieg wollen."