Sunday, February 27, 2022
Ein in die Enge getriebener Präsident Putin droht mit dem Äussersten – der Vormarsch in der Ukraine stockt
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Ein in die Enge getriebener Präsident Putin droht mit dem Äussersten – der Vormarsch in der Ukraine stockt
Peter Rásonyi - Gestern um 19:28
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist noch keine vier Tage alt, und schon greift der russische Präsident Wladimir Putin zur schwersten Keule, mit der er dem Nachbarland und dem Westen drohen kann. Er hat am Sonntagnachmittag in einer am Fernsehen übertragenen Sitzung mit hohen Offizieren angeordnet, die russischen Atomstreitkräfte in den Zustand höchster Alarmbereitschaft zu versetzen. Er begründete diesen drastischen Schritt mit den «illegalen Sanktionen», die der Westen gegen Russland ergriffen habe, sowie mit «aggressiven Äusserungen», die Vertreter von Nato-Staaten gegen Russland gerichtet hätten.
Putins Drohgeste erfolgte, kurz nachdem die ukrainische Regierung in ein Treffen mit einer russischen Verhandlungsdelegation am Montagmorgen an der ukrainisch-weissrussischen Grenze eingewilligt hatte. Der ukrainische Aussenminister Dmitro Kuleba interpretierte den Schritt als Versuch, die Ukraine davor zusätzlich unter Druck zu setzen. Auch in Washington wurde betont gelassen auf diese jüngste Eskalation reagiert. Jen Psaki, Präsident Bidens Sprecherin, ordnete sie in das bereits gewohnte Verhalten Präsident Putins ein, diesen Konflikt mit einer Kaskade von Drohungen und falschen Behauptungen voranzutreiben.
Keine Kapitulation in Sicht – der Kreml wird nervös
Die Drohung mit dem russischen Arsenal Tausender atomarer Sprengköpfe passt in die seit Monaten zu beobachtende Strategie, die Ukraine mit einem militärischen Aufmarsch einzuschüchtern und zu den gewünschten Konzessionen zu zwingen. Doch bisher ist das Kalkül nicht aufgegangen. Auch am Sonntag zeigte Kiew keinerlei Bereitschaft zum Nachgeben. Präsident Selenski begrüsste das bevorstehende Treffen. Gleichzeitig betonte er, die Ukraine beteilige sich an den Gesprächen ohne Vorbedingungen. Auf eine bevorstehende Kapitulation Kiews deutet nichts hin.
Der russische Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerasimow nehmen Putins Befehl entgegen, die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen. Aleksey Nikolskyie Grossoffensive an drei Fronten im Norden, Osten und Süden und die darauf folgenden Bombardements strategischer Einrichtungen im ganzen Land haben die Ukraine offenbar nicht beeindruckt. Im Gegenteil, sie stärkten den Widerstandswillen der Regierung und breiter Bevölkerungskreise, unterstützt durch eine geschickte Informationspolitik Präsident Selenskis.
Dass Putin nun so rasch zur verbalen nuklearen Eskalationsstufe griff, macht deutlich, dass die militärische Strategie bisher nicht wunschgemäss funktioniert. Von der raschen Überwältigung des Landes, die viele Militärstrategen erwartet hatten, kann bisher keine Rede sein.
Terraingewinne im Süden deuten auf mögliche Okkupation hin
Militärisch machten die russischen Truppen über das Wochenende vor allem im Süden und Südosten des Landes Terraingewinne. Die Stadt Melitopol mit 150 000 Einwohnern wurde offenbar eingenommen; vor deren Polizeiwache wurde die russische Fahne gehisst. Die Hafenstadt Mariupol wurde von russischen Truppen bedrängt. Hier könnte Russland versuchen, den Küstenstreifen zwischen den abtrünnigen «Volksrepubliken» im Donbass und der 2014 besetzten Krim zu erobern und dauerhaft zu besetzen.
Im Nordosten kam es am Sonntag zu heftigen Gefechten in der zweitgrössten Stadt der Ukraine, Charkiw, die nur knapp 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt. Doch die ukrainischen Truppen vermochten die Angriffe bisher abzuwehren. Bilder von zerstörten russischen Militärfahrzeugen um Charkiw zeugten von schweren Kämpfen und Verlusten auch bei den Invasoren.
Auch im Norden leistete die ukrainische Armee den von Weissrussland aus vorrückenden russischen Truppen hartnäckigen Widerstand und hinderte sie am raschen Vorstoss in die Hauptstadt Kiew. Diese wurde über das ganze Wochenende von vereinzelten Schusswechseln und Explosionen heimgesucht, die vor allem auf Sabotageakte und Provokationen eingeschleuster Sondertruppen zurückgeführt wurden.
Der Kiewer Bürgermeister Witali Klitschko verordnete der Bevölkerung eine Ausgangssperre bis Montagmorgen. Die Metro-Stationen dienten als Schutzräume gegen immer wieder erfolgende vereinzelte Raketenangriffe. Doch Russlands Ziel, rasch Kiew zu erobern und dort eine Moskau genehme Regierung einzusetzen, scheint nicht in Griffweite.
Geeinte Front im Westen setzt Putin unter Druck
Auch auf dem internationalen Parkett sieht sich Russland mit Gegenwehr in unerwarteten Ausmasse konfrontiert. In der Nacht auf Sonntag beschlossen die USA, Kanada, Grossbritannien und die EU eine weitere Verschärfung ihrer Sanktionen. Russische Banken sollen vom internationalen Zahlungssystem Swift abgeschnitten werden. Der gesamte Luftraum der Europäischen Union wird für russische Flugzeuge gesperrt. Am Sonntagabend deutete die Türkei die Sperrung des Bosporus für russische Kriegsschiffe an.
Deutschland vollzog einen Kurswechsel und kündigte Waffenlieferungen an die Ukraine sowie markant höhere Investitionen in die rasche Aufrüstung der Bundeswehr an. Viele der neuen Wirtschaftssanktionen werden längerfristig auch die russische Bevölkerung schmerzen, was das Regime Putin unter Rechtfertigungsdruck setzt.
Trotz den überraschenden Erfolgen der ukrainischen Armee ist klar, dass die Invasionstruppen noch nicht ihre volle Kraft entfaltet haben. Am Wochenende hatten noch nicht alle bereitstehenden Truppen die Grenze überquert. Die enormen Kapazitäten von Artillerie, Luftwaffe, ballistischen Raketen und Marschflugkörpern wurden primär gezielt gegen strategische Ziele wie Flughäfen, Flugabwehr oder Munitionsdepots eingesetzt. Die Zerstörung der ukrainischen Städte ist noch nicht das Ziel der Invasion. Eine weitere, äusserst brutale Eskalation des Krieges liegt durchaus im Rahmen des Möglichen.
Deshalb ist es erfreulich, dass es am Montag zu ersten diplomatischen Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland seit Kriegsbeginn kommen soll. Auch wenn derzeit wenig auf eine Einigung hindeutet, sollten beide Seiten jede Gelegenheit wahrnehmen, Putins Truppen einen gesichtswahrenden Rückzug zu ermöglichen. Erstmals gab das russische Verteidigungsministerium Gefallene und Verletzte zu, ohne aber auf Einzelheiten einzugehen. Jede Ausweitung dieses Krieges droht für beide Seiten äusserst verlustreiche Ausmasse anzunehmen.